Sie liebten und sie hassten ihn

Am 27. Oktober ehren die Sozis ihren Gerhard Schröder für 60 Jahre Parteizugehörigkeit. Neulich wollten sie ihn noch aus der Partei kugeln. Wegen seiner Nähe zu Russland. Die Agenda 2010 war nie ein Problem für die Genossen.

Nachdem Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt zu Gazprom wechselte, gaben sich viele Bürger im Land kritisch – besonders jene, die die Agenda 2010 und Hartz IV verteufelten. Dass er der Genosse der Bosse und Manager sei: Damit wäre es ja endgültig bewiesen, erklärten sie damals. Am 22. November 2005 schied er aus dem Amt aus, nur 17 Tage später – am 9. Dezember – wird bekannt, dass er zu Gazprom wechselt und Aufsichtsratschef für das damals erst gegründete Konsortium zum Bau der neuen Ostseepipeline werden würde.

Die Sozialdemokraten hielten sich damals bedeckt – sucht man aktiv nach kritischen SPD-Stimmen um das Jahr 2005/06, so findet man: Nichts. Womöglich witterten die Genossen damals sogar eine Kampagne, die dazu angeleiert wurde, das Andenken an jenen Bundeskanzler Schröder zu beschmutzen. Die Sozialdemokraten waren feinfühlig in jenen Jahren, übersensibel, sie wurden ja hart kritisiert für ihre Abkehr von alten Pfaden – und sie litten unter Verfolgungswahn. Dass sie aus guten Gründen Kritik einfuhren, weil sie ihre Stammklientel, die Arbeiter und Angestellten, verraten haben: Darauf kamen sie gemeinhin nicht. Die SPD konnte damals schon Opfer-Abo.

»Unser Gerhard« trotz Hartz IV

Ihre Reformen waren aus ihrer Sicht richtig und alternativlos – das TINA-Prinzip hatte sie voll im Griff. Die Leute, die auf die Straße gingen, die Montagsdemonstrationen gegen den Sozialabbau besuchten, verunglimpften sie. Für die SPD waren diese Leute eine Mischung aus Querulantentum – heute würde man sie Querdenker nennen – und Begriffsstutzigkeit. Letzteres erklärte man so: Die Agenda 2010 würde nur deswegen nicht akzeptiert, weil sie nicht richtig vermittelt wurde. Die Leute seien dagegen, weil sie noch nicht verstanden haben, welche Segnungen darin schlummerten.

Auf die Agenda ließen die Sozialdemokraten nichts kommen – auch nach Schröder nicht. Für einige Sozialdemokraten habe er zwar die Partei auf Abwege gebracht, aber so richtig gebrochen haben sie mit »unserem Gerhard« nicht. Noch nicht mal die Drehtür, also direkt aus einem politischen Amt auf einen Aufsichtsratsposten gestolpert zu sein, nahmen sie ihm krumm.

Erst in den letzten Monaten hat man entdeckt, dass dieser Schritt Empörung bedarf. Wie immer bei der Sozialdemokratie: Mit jahrelanger Verspätung – und als andere sozialdemokratische Konstante ebenso: Aus den falschen Gründen. Nicht, dass er sein politisches Amt nutzte, um sich für die Wirtschaft zu empfehlen, machen sie ihm zum Vorwurf – das kam ihnen ja jahrelang nicht in den Sinn. Nein, weil er eine Nähe zu Russland zuließ, die jetzt als schmuddelig galt.

Nun kann man jenem Gerhard Schröder viel vorwerfen. Und man muss es objektiv betrachtet auch tun, denn er hat seine Partei als »Alternative für Deutschland« aus dem Spiel genommen, ein politisches Vakuum entstehen lassen (was die Sozis aus der Zeit nach seiner Kanzlerschaft nochmal forcierten, indem sie in eine Dauerkoalition mit der Union gingen) – aber die wirtschaftliche Partnerschaft mit Russland war und ist ganz und gar nicht als Vorwurf geeignet. Ganz im Gegenteil, das war ein Schritt nicht nur in die richtige Richtung, sondern eben auch im Sinne des sozialdemokratischen Erbes.

Wandel durch Handel

Wandel durch Annäherung: Diese Parole von Brandt und Bahr ist ja nicht nur so zu verstehen, dass man sich geschniegelt an einen Tisch hockt und Nettigkeiten austauscht. Da braucht es mehr: Wirtschaftliche Verbundenheit etwa. Das Abkommen über Gaslieferungen mit Russland, die Ostseepipeline im Konkreten: So näherte man sich an, so wandelte man die Umstände. Diesen Schritt zu gehen, kann man ihm nicht vorwerfen. It’s the economy, stupid!

Potenzial zur Kritik wäre der Drehtüreffekt gewesen. Aber man schwieg – insbesondere wie bereits erwähnt unter Sozialdemokraten. Kein schlechtes Wort auf den Ex-Chef bitte.

In den Jahren danach brach die Partei auch nicht mit dem Erbe jenes angeblich Dritten Weges, den er zusammen mit seinem blassroten Kollegen aus London eingehen wollte: Das Schröder-Blair-Papier blieb weiterhin die Leitlinie, die Sozialdemokratie verteidigte Hartz IV bis aufs Blut. Richtig sei das gewesen – wichtig sowieso. Fördern. Fordern. Wer das kritisierte, war ein gefallener Engel aus der Hölle. Einige Dissidenten wurden durch Zuteilung ministerieller Posten kaltgestellt. Grüße an Frau Nahles an dieser Stelle, die später sogar »Chefin« der Arbeitslosen wurde. Dass unter Schröder eine Kehrtwende stattfand: Als nominelle Kraft, die den Schwachen in der Gesellschaft dienen wollte, zu einer Truppe, die Schwache marginalisierte und kriminalisierte, dabei deren mögliche Perspektiven raubte: Die Partei hätte aufstehen müssen – und ein Parteiausschlussverfahren für den Gert wäre nur konsequent gewesen.

Das alles gab es aber nicht. Schröder wurde danach als elder statesman verkauft, als einer, der es in der Welt zu was brachte – und obgleich die Partei an der Basis brodelte, trotzdem es Kritik an der Neoliberalisierung gab, lud man ihn auch mal zu Veranstaltungen ein, bei denen er als Großer der Sozialdemokratie vorgestellt wurde.

Außen-Gerd und Innen-Gerd

Und kaum, dass es als unschicklich galt, zu viel Nähe zu Russland oder zu Russen zu haben, knicken die Sozialdemokraten ein und brechen mit Gerhard Schröder – über Jahre war man vielleicht nicht ganz glücklich mit ihm, schließlich war er kein Willy Brandt. Aber er war einer von ihnen, jemand, den sie Respekt entgegenbrachten, der in seiner Jugend mit dem Spitznamen Acker Fußball rumpelte, der also ein Anpacker war, ein Kämpfer – auch wenn er ihren Wählern schwere Zeiten einhandelte, ein Gerhard Schröder, es gab nur ein Gerhard Schröööder!

Innenpolitisch hat er die Sozialdemokratie zerrissen, sein Kurs hat seine Partei von einer Volks- zu einer etwas größeren Kleinpartei gemacht. Sein Erbe, von dem sich die Sozialdemokraten nicht lösen wollten, hat bewirkt, dass mancher SPD-Kanzlerkandidat lächerliche Wahlergebnisse einfuhr. Aber all das nahm man hin, saß man aus, rechtfertigte man noch mit kecker Chuzpe.

Ganz anders außenpolitisch: Nicht, dass Gerhard Schröder ein geopolitisches Naturtalent gewesen wäre. Der Anwalt aus Niedersachsen war kein Kosmopolit, er sah nur so aus in seinem Brioni-Anzug. Und so ein Zigarrenstumpen im Mundwinkel macht schnell weltläufiger, als man eigentlich ist. Aber so richtig viele Fehler hat er auf dem internationalen Parkett nicht begangen. Abenteuer im Irak schloss er aus, das kostete ihm Sympathien in Washington – auch wenn man hinzufügen muss: Natürlich war Deutschland via Ramstein am Irakkrieg beteiligt. Das warfen ihm auch etliche Kritiker vor. Aber vielleicht erwarteten sie zu viel von einem deutschen Kanzler – mehr als er zu leisten imstande war. Zögerlich hielt er die Bundeswehr im Irak heraus und ließ sich auch nicht umstimmen. Wer nicht für Bush war, war gegen ihn. Für einen Augenblick ließ das US-Regime ihn das spüren.

Sein Zusammenrücken mit Russland war die andere Ebene seiner außenpolitischen Leistung. Ob Irak oder Russland, beides sind (übersichtliche) internationale »Erfolge« des Gerhard Schröder. Außerhalb Deutschlands hat er einfach mehr geleistet als innerhalb dieses Landes. Dass er deshalb heute von seinen Mitgenossen geächtet wird, ist kaum nachzuvollziehen. Hätte er nur und ausschließlich Arbeitnehmer und Arbeitslose unter Druck gesetzt und ihnen den Sozialstaat beschnitten, sie wären fein mit ihm – er wäre heute ein Held der Arbeit innerhalb der SPD. Und seine 60 Jahre in der Partei wären eine einzige Erfolgsgeschichte.

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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AeaP
AeaP
6 Monate zuvor

Es ist wie immer: die SPD schwankt zwischen sozialistischem Ideal und der Anbiederung an das Kapital, wobei heute vom Ideal nicht mehr viel übrig ist. Gerd hat den Schwenk vollzogen. Nun hat die alte rote Tante auch noch den letzten Rest sozialdemokratischer Werte, die Friedens- und Entspannungspolitik, über Bord geworfen. Wer braucht eine solch entkernte Partei noch??

Uwe Borchert
Uwe Borchert
6 Monate zuvor

Gerhard Schröder hat aus der SPD Spezialdemokraten mit einem sehr speziellem Verhältnis zur Demokratie gemacht. Und er hat es zusammen mit Kriegsbündnis 99/Die Olivgrün*innen zum ersten gewonnenen Krieg seit 1945 gebracht. Diese Leistung wurde im Artikel unterschlagen.

Patient 0
Patient 0
Reply to  Uwe Borchert
6 Monate zuvor

Allerdings hat er auch den Krieg gegen den Irak verweigert.
+ und –

Wütender Bürger
Wütender Bürger
6 Monate zuvor

Roberto: ich bin ein wenig enttäuscht. Ich kenne Dich als sprachlich bewanderten Texter. Aber jetzt kommst Du mit einer der vielen aus den Angelsächsischen falsch, weil wörtlich übernommenen Redewendung: „Sie wären fein mit ihm.“

Aua! Das tut weh! 🙁

Mensch
Mensch
Reply to  Wütender Bürger
6 Monate zuvor

Du Musterbeispiel eines Besserwessis gehst mir fürchterlich auf den Sack. Vom ersten Tag , an dem Du hier Deinen Senf zum Besten gibst. Damals wolltest Du mich vom umgefallenen Gregor Gisy überzeugen….

Mensch
Mensch
Reply to  Mensch
6 Monate zuvor

…und die Seite hi ist nicht mehr benutzbar😠👎
Dafür , dass ich hier weiß Gott nicht geizig war, muss ich mir hier unerträgliche Werbescheiße gefallen lassen.

War wohl eher ne scheiß‘ Investition😱😥

Wütender Bürger
Wütender Bürger
Reply to  Mensch
6 Monate zuvor

Also wenn Du mich schon als „Besserwessi“ beschimpfst, dann sagt Dir dieser „Besserwessi“ jetzt, daß er gar keine Werbung sieht, weil er weiß, wie das zu vermeiden ist. 😉

Und darüber hinaus empfiehlt Dir der „Besserwessi“ weniger Kaffee und stattdessen Baldriantee zu trinken. Das senkt den Blutdruck!

flurdab
flurdab
Reply to  Mensch
6 Monate zuvor

Probier es einmal mit NoSkript, AdBlocker Ultimat, Ghostery.
NoSkript ist oftmals ein wenig mühselig weil man händisch die Skripte „erlauben“ muss. Im Regelfall braucht es zumindest die Erlaubnis für Javaskript um eine Seite funktionstüchtig anzuzeigen.
Man lernt und sieht allerdings auch wieviele „Skripte“ ohne Bezug zur eigentlichen Seite mitlaufen.
Soviel zum gläsernen User.

Grüße

Carlo
Carlo
6 Monate zuvor

Naja, Schröder und Fischer haben die Ehre der Hohenzollern gerettet, indem sie Belgrad gedemütigt haben.
Ich geh davon aus, das Karl Alexander dafür auf dem Tisch getanzt hat. Leider könnte das mal (hoffentlich nicht!) in einem zukünftigen neoliberalen Geschichtsbuch stehen, was aber auch egal ist.
Es steht auch die Frage im Raum ob Schrödi oder mehr sein schlechter Kumpel Wolfgang Klement der Antreiber für die Agenda 2010 war….vorerst…nichts genaues weiß man nicht……….;-))

Karl aus Oberschlesien
Karl aus Oberschlesien
6 Monate zuvor

Zu den Parteien im allgemeinen – die sind nutzlos.
Zur SPD:
https://www.agmiw.org/wp-content/uploads/2020/04/Buch-Volksverraeter-SPD.pdf
Sehr brisant. Wer das Buch behalten will, sollte es runterladen.
Gruß Karl.