Die Nacht der lebenden Toten

Die SPD hat bei der Bundestagswahl zwar das beste Ergebnis aller Parteien eingefahren – aber objektiv betrachtet nur mit dem drittschlechtesten Wahlergebnis, das sie jemals erzielte. Was für ein trauriger Politikwechsel das ist: Verbrauchte GroKo- und Agenda-Gesichter sollen es jetzt richten. Oder richtet es am Ende doch die GroKo?

Die Sozialdemokraten sind zurück! Und wie! Ja, das ist eigentlich eine recht gute Frage: Und wie? Würde man bei den Sozis nachfragen, hieße es wohl: Mit einem Wumms. Glorreich und großartig wie einst, wie in der guten alten Zeit, stehe man jetzt wieder da. Mit uns ist wieder zu rechnen, würden sie juchzen. Kurz nach einer Wahl, bei der jene Partei, die sich heute immer noch aus Traditionsgründen SPD nennt, nicht vollends abschmiert, sind solche Antworten natürlich von Vollräuschen getragen. Nüchtern nachgefragt sieht die Renaissance der Sozis etwas trauriger aus. Das sagenhafte Ergebnis des Wahlsonntag ist das drittschlechteste SPD-Ergebnis aller Zeiten bei einer Bundestagswahl.

11,9 Millionen Menschen haben sich für die Sozialdemokraten entschieden: 19,5 Prozent aller Wahlberechtigten also. Scholz reiht sich in Interviews ideell und historisch schon in die Reihe mit Brandt, Schmidt und Schröder ein. Aber keiner von denen, ja noch nicht einmal Gerhard Schröder, trat sein Amt mit so wenig Rückhalt in der Gesamtbevölkerung an. Selbst als Gerhard Schröder abgewählt war und in der Elefantenrunde noch mit der Fortsetzung seiner Kanzlerschaft bluffte, hätte seine Partei eine solche Phantasiekanzlerschaft noch mit 26 Prozent aller Wahlberechtigten antreten können. Die Bundestagswahl 2013 beendete die SPD mit demselben Zweitstimmenanteil wie vorgestern – Unterschied nur: Der Erststimmenanteil war damals, bei dieser an sich für die Sozis enttäuschenden Wahl, höher als aktuell.

Gestern vor 23 Jahren

Schon vor dieser Bundestagswahl wurden Bilder bemüht, die an große sozialdemokratische Tage erinnern sollten: Man stehe vor einer Wende wie 1998, las man oft. Und am Wahlabend bemühten einige weiterhin dieses Bild, auch wenn sofort klar war, dass es eine rot-grüne Koalition so nicht geben kann. Gestern vor 23 Jahren gewann die SPD die Bundestagswahl. 16 Jahre Kohl wurden an jenem Sonntag beendet. Der Dicke weinte. Man sieht diese Bilder in jedem Rückblick, der sich mit den Neunzigern befasst. Schröder, Lafontaine und Fischer standen da. Unverbraucht. Agil. Hemdsärmelig. Der Genosse der Bosse: Dass er unternehmernah war, das ahnte man schon, konnte man wissen.

Wie seine Kanzlerschaft jedoch tatsächlich verlaufen sollte, wusste man an diesem Abend noch nicht. Es war eine kleine Zeitenwende angebrochen. Vielleicht anders als man annahm. Bald schon würde man sich an die Regierung Kohl nicht mehr ganz so verbittert erinnern: Damals war nicht alles schlecht und neoliberal.

An diesem Sonntag hingegen sahen wir verbrauchte Gesichter, durch etliche Jahre der Großen Koalition und der Agenda 2010 gegerbte Antlitze, die keinerlei Frische mehr aufzeigten – Cum-Ex-mitgenommen alles in allem. Nichts erinnerte da an jenen Abend im September 1998, an die Kraft der drei Männer, die das neue Bündnis schmiedeten und die für einige Tage aussahen wie jene Reformer, die man sich lange gewünscht hatte. Mit ihnen sollte es liberaler werden, umweltbewusster und fairer. In allen Bereichen besser halt. Diese Illusion kann heute keiner haben, der sich ernstlich mit der Politik der letzten 20 Jahre befasst.

Die SPD kommt abgekämpft aus der GroKo an einen Regierungsanspruch, der uns verkauft wird wie ein Regierungswechsel. Aber bitte nicht vergessen: Die SPD war und ist noch immer Regierungspartei. Sie hat das im Wahlkampf – oder das, was man als einen solchen ausgibt – nur immer wieder geschickt verborgen. Olaf Scholz sprach in den letzten Monaten nicht sonderlich viel. Das haben die Wähler wohl als seinen Vorteil betrachtet. Zu einem Volkstribunen hat es aber wie gesagt nicht gereicht. Wann immer er aber sprach, klang er wie ein Oppositionspolitiker, der endlich auf die Regierungsbank wolle.

Die GroKo, die es schon 2017 nicht gab – und dann doch gab

Nichts erinnerte vor zwei Tagen an jenen Tag Ende der Neunzigerjahre, als die Sozialdemokraten und Grünen ins Kanzleramt zogen. Schlaff und aufgerieben standen sie da. Scholz Gesicht kennt man noch von damals. Als feister Generalsekretär sollte er bald die Agenda 2010 verteidigen. Selten wirkte ein »Wahlsieger« so verliererhaft, so unglaublich leer und ausgesaugt. Das soll der Kopf der Zukunftskoalition sein? Gibt es eine Werbeagentur, die das noch kaschieren kann? Diese Wahlnacht vom 26. auf den 27. September 2021 wird wohl als die Nacht der lebenden Toten in die Annalen deutscher Bundestagswahlgeschichte eingehen. In jener Nacht gab es keine Renaissance, keine Wiedergeburt, sondern es stiegen Wiedergänger aus der Gruft, die so taten, als seien sie noch voller Leben und Energie.

Ein bisschen hat man den Eindruck, dass die SPD zwar sondieren und auch mit etwaigen Koalitionspartnern sprechen wird, allerdings gar nicht Kraft aufbringt, so ein Wagnis einzugehen. Warum nicht wieder eine Große Koalition? Die kennt man, die schätzt man doch. Da weiß man was man hat. Armin Laschet hat passenderweise schon seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft zurückgeschraubt. Muss er wohl, wenn er kleiner Partner der SPD werden will. Dass die GroKo neulich noch meinte, eine GroKo komme für sie nicht mehr in Frage, ist kein Indiz dafür, dass die ausgeschlossen ist. Man denke mal bitte an 2017 zurück. Schon vergessen? Ja, die digitale Demenz ist gnadenlos. Damals gab es einen SPD-Kandidaten namens Martin Schulz, der Name ist längst vergessen. Schulz trat damals vor die Presse und machte klar, dass die Sozialdemokratie in die Opposition gehe – und sonst nichts. Am Ende war sie dennoch Koalitionspartner der Union.

Und wer kann, denkt bitte mal noch weiter zurück: An das Jahr 2005. Damals wurde Merkel Kanzlerin – in einer GroKo. Was hat man damals debattiert: Ist die GroKo nicht demokratiedefizitär? Als Übergangslösung müsse man diese Konstellation nun wohl eingehen, hieß es. Seit damals ist die GroKo die Regel, sie wurde nur für eine Amtsperiode unterbrochen, danach fanden sich SPD und Union erneut und waren glücklich über das Wiedersehen. Vielleicht feiern sie ja bald schon ihr Liebes-Comeback?

Kurz und gut: Diese vermeintlich geschichtsträchtige Wahl hat die SPD nicht reaktiviert – sie zeigt nur, dass mittlerweile auch die Union so kaputt ist wie es die Sozis schon lange sind.

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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Schwitzig
Schwitzig
2 Jahre zuvor

Wieso machen diese Figuren nicht einfach eine GroKo aus SPD, CxU, Grüne, Linke und FDP.
Dann kann man sich den Wahlstress sparen und die Politik wäre exakt dieselbe, wie in den derzeitigen Farbvarianten der Scheißemischung.

Robbespiere
Robbespiere
2 Jahre zuvor

An sich gibt es über die SPD und Scholz nicht viel zu sagen.

Bemerkenswert ist nur die Amnesie ihrer Wähler bzgl. der tiefen Wunden, die Schröder gemeinsam mit den Grünen damals in den Rücken der abhängig Beschäftigten, der Arbeislosen, der Rentner undderen Familien schlug.

Nichts davon hat die Mitgliedschaft der SPD in den GroKo’s je geheilt, sondern noch vertieft.

Anna
Anna
Reply to  Robbespiere
2 Jahre zuvor

tja, diese Bevölkerung leidet eben an ausgeprägtem Masochismus, und das permanent seit Jahrzehnten

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Anna
2 Jahre zuvor

@Anna

Eher ein Egozentrismus, bei dem Einer auf den Anderen steigt, um Etwas von dem zu ergattern, von dem es immer weniger gibt, weil die große Umverteilung Alles nach Oben spült.

André Tautenhahn
André Tautenhahn
2 Jahre zuvor

Die SPD kommt abgekämpft aus der GroKo an einen Regierungsanspruch, der uns verkauft wird wie ein Regierungswechsel. Aber bitte nicht vergessen: Die SPD war und ist noch immer Regierungspartei. Sie hat das im Wahlkampf – oder das, was man als einen solchen ausgibt – nur immer wieder geschickt verborgen.

Na ja, so recht stimmt das nicht. Scholz hat sich einen Amtsbonus geschickt verschafft, von dem alle annahmen, das es ihn bei dieser Wahl nicht geben würde. 😉

https://www.taublog.de/210902den-amtsbonus-aus-den-augen-verloren

Richtig ist natürlich, dass der Schlumpf der SPD nun ein Problem hat. Die eigenen Inhalte. Die lassen sich nämlich schwerlich mit der FDP umsetzen. Die Ampel ist aber die einzige Option, neben der GroKo freilich, die Scholz bleibt. Die Traurigkeit rührt vermutlich daher, dass man erkannt hat, dass die FDP nun nicht mit wehenden Fahnen zu den Sozis wechselt und angedeutet hat, lieber Jamaika zu probieren.

marie
marie
Reply to  André Tautenhahn
2 Jahre zuvor

hinzu kommen auch die plötzlich nach der wahl losgelassenen joker der cdu, welche im umfeld von scholz und spd polizeiliche untersuchungen zum warburg-skandal sehr akribisch herausbuddeln – völlig zurecht und taktisch nach den angriffen auf laschet sehr wirksam … wenn dann laschet noch habeck den bundeskanzler anbietet und sein freund lindner ihn dem scholz vorzieht, haben wir wenigstens einen polit-krimi zu erleben …

Pen
Pen
2 Jahre zuvor

Caitlin Johnstone ⏳@caitoz

There Is No ‚Good‘ Form Of Capitalism

„Q: What is capitalism?
A: Capitalism is a system of transferring blame for society’s problems from the people who cause those problems onto the people who are hurt by them.“
https://caitlinjohnstone.substack.com/p/there-is-no-good-form-of-capitalism

Art Vanderley
Art Vanderley
2 Jahre zuvor

Eine GroKo ist ohne Merkel ausgeschlossen, für alle Beteiligten wäre das politischer Selbstmord.
Scholz hatte viel Glück, mit Habeck hätte er ein Problem gehabt.
Aber selbst Baerbock hätte Chancen gehabt, hätten sich die Grünen nicht selbst ins Aus geschossen.
Ihre kleinen Verfehlungen waren dabei nicht entscheidend, ginge es danach, könnte man die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer entlassen, und zwei Drittel der Führungskräfte.
Kretschmann, nicht Palmer, ist ein Problem für die Partei, genau wie Idenditätskult und der (falsche) Eindruck einer Verbotspartei, den die Grünen aber ständig auch selber befeuern.
Die SPD hat gewonnen, weil sie all dies nicht gemacht hat, Sieg durch Vakuum, weil das besser rüberkommt als eine schlechte Befüllung.

Pen
Pen
2 Jahre zuvor

OT

Sucharit Bhakdi über die Covid Impfung

„In einem neuen Interview äußert er sich klar und deutlich zu den ungetesteten Impfungen, die weltweit ohne ordnungsgemäße Studien propagiert werden: „Es ist unsere Pflicht, die Menschen offensiv über die Gefahren aufzuklären, denen sie sich und ihre Lieben durch diese ‚Impfung‘ aussetzen.“

„Genbasierte Impfstoffe sind eine absolute Gefahr für die Menschheit und ihre Anwendung verstößt derzeit gegen den Nürnberger Kodex, so dass jeder, der ihre Anwendung propagiert, vor Gericht gestellt werden sollte.“

„Vor allem die Impfung von Kindern ist so kriminell, dass mir die Worte fehlen, um mein Entsetzen auszudrücken … Wir sind furchtbar besorgt, dass es Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit haben wird. Und das wird sich erst in Jahren oder Jahrzehnten zeigen. Und das ist möglicherweise eines der größten Verbrechen, einfach eines der größten Verbrechen, die man sich vorstellen kann.“

https://uncutnews.ch/sucharit-bhakdi-covid-19-impfung-ist-die-groesste-bedrohung-der-die-menschheit-je-ausgesetzt-war/

Last edited 2 Jahre zuvor by Pen
ShodanW
ShodanW
2 Jahre zuvor

Ich denke, es wird noch spannend werden, was die nächsten Wochen und Monate abgehen wird. Jetzt fliegt erst mal Scholz die Warburg-Sache um die Ohren, natürlich pünktlich zum Wahldebakel der Union.

https://www.focus.de/politik/deutschland/steuerskandal-um-warburg-bank-staatsanwaltschaft-hat-scholz-und-top-genossen-im-visier-hat-laschet-das-eingefaedelt_id_24287241.html

Da beide Altparteien Dreck am Stecken haben, scheint nur noch die Frage, wer mehr Dreck für sich verbucht und wer ihn schneller und öffentlichkeitswirksamer ausgraben will. Vielleicht wird dann wieder die Maskendeal-Story ausgegraben, die ist ja gerade bei Corona schneller versickert als die Medien sonst so gerne auf Dreck herumkloppen.

https://www.welt.de/politik/deutschland/article231219997/Maskendeals-Laschet-Regierung-weichte-Korruptionsschutz-auf.html

Pen
Pen
2 Jahre zuvor

OT

sehr gutes interview von boris reitschuster mit dr. raffael bonelli über corona u die spaltung der gesellschaft.

dr. bonelli betont mehrfach das unrecht,
das professor sucharit bhakdi in deutschland widerfährt.

dem kann ich mich nur anschließen.

ein scheißvolk aus feiglingen, strebern und sadisten!

https://m.youtube.com/watch?v=GLj59KcniGY&feature=youtu.be

Last edited 2 Jahre zuvor by Pen
Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Pen
2 Jahre zuvor

@Pen

Sehr sehenswertes Video und kein bißchen reißerisch.

Pen
Pen
Reply to  Robbespiere
2 Jahre zuvor

@Rob

Was auffällt , ist Bonellis friedliche, faire Art. Er scheint für jeden Menschen Verständnis zu haben.