Minimalstaat und Maximalwirtschaft

Nach den Amokläufen in Dayton und El Paso war schnell klar: Walmart verkauft weiter Waffen. Dies empörte auch den hiesigen Journalismus. Das kommt davon, wenn man seit Jahren glaubt, nicht der Staat sei Entscheider, sondern Wirtschaftsunternehmen hätten die Regeln zu diktieren und modifizieren.

Frage an den Suppenpulver-, Chlorhühnchen-, Rohrfrei- und Waffenverkäufer Walmart nach den Tragödien in Dayton und El Paso: Werden Sie weiterhin Schusswaffen im Sortiment belassen? Aber natürlich, antwortete der Supermarktkonzern. Warum denn nicht? Die gesetzliche Lage ist eindeutig, der Zweite Verfassungszusatz erlaube seit 1791 jedermann das Tragen von Waffen. Das ist Tradition. Und einer müsse dieses Recht ja auch mit Leben ausfüllen. Selbst wenn es todbringend ist. Insofern ist der Verkauf von Waffen verfassungskonform, ja geradewegs die krämerische Berechnung wahrer Patrioten. Walmart zeigt sich also uneinsichtig. Medien links und rechts des Atlantiks berichteten darüber. Durchaus empört und brüskiert.

Freiwilligkeit, Selbstkontrolle, Einsicht: Der fromme Wunsch als Ordnungskraft?

Wir haben es an und für sich schon mit einem sehr eigentümlichen Zeitgeist zu tun. Einerseits ist er total menschheitsverdrossen, glaubt dass Meschen engmaschig geführt und überwacht werden müssen. Verfolgungsbetreuung und Kontencheck tun da Not. Sind die Menschen aber nicht einfach ordinäre Bürger, sondern Unternehmer-, Manager- oder Konzernleitungsbürger, dann sieht das ganz anders aus. Dann outen sich Politik und Gesellschaft gerne mal als Laissez-Faire-Fans. Denn diesem Typus Bürger und Rechtsperson Gesetze und Regularien aufzuerlegen, das ist ja schließlich mindestens gefühlte Bevormundung. Leistungsträger aber bevormundet man nicht. Man gibt sich zuversichtlich, dass sie es gut meinen, geht vom Besten aus und glaubt an irgendwelche Selbstheilungskräfte des Marktes durch seine Marktteilnehmer.

Es hat sich in den letzten Jahren der Liberalisierung unserer Wirtschaft ein kruder Fatalismus herauskristallisiert, der sich gar keine andere Vorgehensweise mehr vorstellen kann. Zu Anfang, als man noch vor dem Volk predigte, dass Entbürokratisierung und ein schlankerer Staat, die Lösung unserer Probleme seien, hat man ja die Option staatlicher Eingriffe noch im Hinterkopf gehabt. Wenigstens um sie zu diffamieren, um davor zu warnen, sie als falsch zu kennzeichnen. Von etwaigen Alternativkonzepten hat man sich allerdings mittlerweile vollkommen gelöst. Sie sind offenbar kaum noch vorstellbar.

Neulich habe ich das beanstandet, als ich den Kundenboykott als eine Folge des allseits verinnerlichten Liberalisierungsprozesses vorstellte. Ich schlußfolgerte: »Der Staat sollte sich [während der Zeit der neoliberalen Reformitis] möglichst aus der Verantwortung stehlen, jeder sollte der Schmied seines eigenen Glückes sein. Mit dem Kundenboykott scheint diese Haltung im Alltag angekommen zu sein. Das Kaufverhalten soll jetzt richten, was der Staat verbockt. Man boykottiert nicht mal die Politik, greift sie nicht an, mahnt sie nicht ab, sondern tut so, als habe sie nichts mit der Sache zu tun.« Diese Denke geht leider noch viel weiter.

Gesetzgeber in der Minarchie: Wirtschaftsunternehmen

Ob nun Lebensmittelkonzerne, die die Politik höflichst, allerdings unverbindlich um Mitwirkung bittet oder Automobilhersteller, die ohne Aufsicht und ohne klare Vorgaben die Bereinigung ihrer Betrugsmaschinerie selbstverantwortlich managen, um den eigenen Laden wieder auf Vordermann zu bringen: Stets lauert dahinter ein Gedanke – der Staat kann es nicht. It’s the economy, stupid! Und zwar nur die!

Deswegen jetzt auch die brüskierten Meldungen, die über Walmart herziehen. Denn in diesem Weltbild ist Walmart ja kein sich aufgestellten Regeln unterwerfender Player, sondern Entscheider, ein Macher, ja sogar so eine Art politischer Abgeordneter, der qua seines gesellschaftlichen Status‘ Weisungsbefugnis und judikative Kompetenz verinnerlicht. Marktkonforme Demokratie? Ach hör mir doch auf, das ist doch was für Dilettanten! Wahre Profis sind doch viel weiter. Unsere Postdemokratie ist nicht einfach nur marktkonform, dem Sinne nach, dass sie sich der Wirtschaft anpasst. Sie wird vom Markt, von den Marken und den potenten Marktteilnehmern betriebswirtschaftlich geleitet. Richtlinienkompetenz und so. In der Minarchie, dem Minimalstaat, hat die Wirtschaft nun mal maximale Befugnisse. Sie übernimmt das Geschäft von denen, die vormals noch vom Souverän abbestellt wurden, um die Dinge zu regeln. Absatzzahlen sind quasi die Wählerprozente der postdemokratischen Ära.

Nicht, dass das neu wäre, seit Jahren streiten wir uns ja um das politische Primat und die Primaten aus der Wirtschaft, die es erfolgreich untergraben. Aber bei Meldungen wie jener vom bösen Supermarkt, der sein Sortiment an Waffen nicht aus den Regalen nimmt, merkt man dann wieder sehr deutlich, wie weit fortgeschritten diese staatsverdrossene Haltung ist. Insbesondere bei den Qualitätsmedien. Nicht Walmart ist das Problem, sondern die US-amerikanische Politik. Es sind eben nicht nur die verprellten Protestwähler, die es aufgegeben haben, an den Staat zu glauben. Es sind auch die Leitartikler und ihr komischer Marktmoralismus, die den Staat je und je aus der Veratwortung entlassen. Zwischen beiden Verdrossenengruppen gibt es freilich einen Zusammenhang: Ohne die marktradikalen Konzernokraten hätten sich viele Wähler vielleicht nicht abgewandt. Hier nicht und in den USA erst recht nicht. Aber diese Geschichte kauen wir wann anders durch …

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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rainer
rainer
4 Jahre zuvor

….wär` doch geil, wenn mal bei Aldi und Lidl mal so einfach ne Knarre kaufen könnte…das könnte doch den Umsatz noch mal richtig pushen…….lach

R_Winter
R_Winter
4 Jahre zuvor

Das kommt davon, wenn man seit Jahren glaubt, nicht der Staat sei Entscheider, sondern Wirtschaftsunternehmen hätten die Regeln zu diktieren und modifizieren.

….und dieses wird an Walmart (USA) verdeutlicht. Tooollll.

Warum nicht an VW deutlich machen? Angst vor der VW-Rechtsabteilung? Sie betrügen, lügen und bringen Menschen mit ihren manipulierten Abgaswerten um und werden dabei (selbstverständlich rechtskonform von der Bundesregierung) gedeckt.

Sukram71
Sukram71
4 Jahre zuvor

Also bislang kritisieren alle mir bekannten Medien, hauptsächlich und in erster Linie die US-Regierung und die NRA dafür, dass sie die Waffengesetze nicht verschärft.

Das mit Walmart ist höchsten ne Anekdote nebenbei, um zu verdeutlichen, wie alltäglich in den USA Waffen gekauft werden können.

Rudi
Rudi
4 Jahre zuvor

Die meisten Wählerinnen und Wähler lassen sich leider zu oft noch täuschen. Das mit der Demokratie ist nicht mehr glaubhaft, wenn die Wirtschaftsmächtigen schalten und walten können, wie ihnen beliebt. Bei den Cum-Ex-Gesetzen haben sie mitformuliert, um die später zu nutzenden Steuerlöcher groß genug zu machen, die ihnen am Staat vorbeigeschobene Milliarden einbrachten und – leider – immer noch einbringen.

Das Kriegsministerium kauft pro Jahr für Dutzende von Millionen sogenannte externe Expertise von den Kapitallobbyisten ein, sonst, so heißt es mittlerweile, könnte die Behörde nicht mehr ordentlich geführt werden. Es liegt nahe, dass die Waffenproduzenden im Militärbereich mehr zu sagen haben als das zuständige Ministerium mit dem dazugehörenden Apparat.

Wurde jemals, wie von der Politik zugesagt, eine Transaktionssteuer von 0,1 Prozent als Mittel gegen die kurzfristigen Spekulationsgeschäfte im Aktienhandel eingeführt? Die Frage ist nur rhetorisch gemeint. Während wir über die Höhe der MwSt für verschiedene Produkte diskutieren, bleiben wie selbstverständlich der Kauf und Verkauf an der Börse steuerlich unangetastet.

Demokratie mag da und dort noch funktionieren, wenn es um weiche Themen geht, so etwa um die gleichgeschlechtliche Ehe. Da meint auch jeder mitreden zu können. Bei solchen Fragen können sich die Abgeordneten streiten, ihre Gesinnung zur Schau stellen und bei ihren Wählerinnen und Wählern punkten. Aber das reicht bei Weitem nicht zu meinen, in einer demokratisierten Gesellschaft zu leben.

Nashörnchen
Nashörnchen
4 Jahre zuvor

Ein Händler verkauft – im gesetzlich vorgegebenen Rahmen – Waren. Die spinnen, die Amis!!!
In Deutschland soll es Händler geben, die verkaufen sogar FLEISCH! Oder DIESEL! Paßt auch nicht jedem.
Mir fallen spontan eine ganze Menge Länder ein, da gibt es gar keinen Wal-Mart – aber weit mehr Waffen als Fleisch. Andere Länder, andere Sitten. Ich hab denen das nicht vorzuschreiben.

Übrigens: In Bählin kann man grad live zuschauen, wie wenig „der Staat“ unternimmt: Da wird grad die gesamte Wohnungswirtschaft, das komplette Bauwesen und ein paar tausende Handwerksfirmen ersatzlos geschreddert. Weil „die Wirtschaft“ das so wollte…