Ich lauf‘ hier gleich Amok!

Attentäter, weil er rechts war? Gefährder, weil es sich um einen Islamisten handelt? Und was ist dann mit denen, die Amok laufen und keinen erkennbar politischen Grund angeben können? Wir sitzen auf dem Pulverfass – die Ideologien scheinen nur die Label zu sein, die wir tiefergreifenden Erklärungen vorschieben.

Der Medienbetrieb ist total durcheinander. Fix und fertig und verwirrt. Wegen dieser Amokfahrt in Volksmarsen bei Kassel. Da war ein junger Mann in einen Karnevalsumzug gefahren. Fast 90 Menschen wurden verletzt. Problem nach der Tat: Man konnte sie nicht richtig einordnen. Auf den ersten Blick gab es keinen rechtsextremen Background. Islamist war er wohl auch nicht. Ja, nicht mal als Linksextremen konnte man ihn kategorisieren. Selbst auf den zweiten Blick ergeben sich keine Motive.

Das ist problematisch für eine Zeit, die es gewohnt ist, durch Standardisierungsverfahren Dinge leichter einordnen zu können. Komplexe Hintergründe oder Motive lenken bei einem solchen Prozedere nur ab. Ein Glücksfall ist es daher, wenn sich ein Attentäter, Amokläufer oder Terrorist – die Wortwahl ist ja nach Geschehen verschieden – auf einen Nenner reduzieren lässt. Wenn er also wenigstens ein bisschen ein ideologisches Weltbild pflegte. Ob er dann wirklich ein Rechtsradikaler war oder ein Islamist: Keine Ahnung. Ist auch nicht wichtig. Die Gesellschaft will aber wissen, wie sie Ereignisse verbuchen und betrachten muss.

Was, wenn die ideologischen Backgrounds nicht die Ursache sind?

Es ist zu einem perversen Spiel unserer Mediokratie und Networking-Gesellschaft verkommen, gleich nach derart traurigen Ereignissen nach der Herkunft der Tat zu fragen. Und wild zu spekulieren. Man instrumentalisiert die Tat, um wahlweise Ausländer oder jene, die wir Rechte nennen, verantwortlich zu machen. Noch bevor es Erkenntnisse gibt, haben die Gerüchte dann die erst verspätete Wahrheit ersetzt. Am Ende ringen Fanboys, Interessengruppen, Parteien und Movements um die Deutung des Tathergangs – sie giften sich an und vergiften das Klima. Über die Pietätlosigkeit gegenüber den Betroffenen muss man gar nicht erst sprechen.

Vermutlich ist der Background aber relativ gleichgültig. Er sagt nichts über die gesellschaftlichen Gruppen im Land aus. Mehr sagt da schon ihr Umgang mit solchen Ereignissen aus. Aber die ideologische Erdung der Täter ist mit ziemlicher Sicherheit nicht die Ursache, sondern ein Symptom des Motivs. Ein bisschen vereinfacht formuliert: Man wird nicht zum Mörder, weil man neonazistische Vorstellungen pflegt, aber wenn man mit Gewaltphantasien durch den Alltag geht, nimmt man neonazistisches Gedankengut halt mal nebenbei mit. Man sucht für tiefergehende Probleme Andockstellen, dem Weltbild annehmbare Denkschulen.

Es wird ja auch nicht der Moslem zum Islamisten, weil er zu viel Koran liest und in die Moschee geht. Aber wenn er traumatisiert ins Land kam, aus welchen Gründen auch immer zu Gewaltbereitschaft tendiert, dann liegt es doch nahe, dass er unter Islamisten irgendwie Seelenverwandte vermutet. Die wenigstens jungen Leute, die im islamistischen Namen Terror verbreiten, sind überzeugte Jünger dieser Ideologie. Dahinter steckt eine Ökonomie, stecken Verzweiflung, psychische Probleme und letztlich eine Sinnsuche für die ohnehin empfundene Wut auf die Gesellschaft.

Crazy modern Life: Eine Amokfahrt aus Lärm, Stress, Burnout, Dauerberieselung und Filterblase

Nun will ich nicht vom Hilfeschrei des Täters fabulieren. So eine Art der Analyse findet viel zu oft statt, wenn es um die Einordnung von Gewalttätern geht. Es ist eben nicht nur billig und populistisch von einem Kuschelkurs zu sprechen, denn natürlich pflegen viele Analysten so einen simplifizierenden Stil. Sie filtern dann das Opfer im Täter heraus und lindern die Verantworung. Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zieht allerdings hinter sich her: Er ist selbst verantwortlich für das, was er tut.

Trotzdem muss man nun fragen: Warum drehen in den letzten Jahren so viele Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Denkschulen durch? Wie oft man heute hört, dass einer mit seinem Auto in eine Menschenmenge rast. Das hat es doch noch vor einigen Jahren in dieser Ausprägung nicht gegeben. Plötzlich hat man das Gefühl, dass ständig was los ist. Während ich diese Zeilen tippe, lese ich, dass irgendwo in Hessen auf einen Radfahrer geschossen wurde. Er wurde nicht getroffen, es war aber denkbar knapp, denn seine Klamotten wiesen einen Durchschuss auf. Woher kommt das also?

Es scheint so, als ob diese Gewaltbereitschaft ein Produkt unserer Lebensverhältnisse ist. Wir leben in einer lauten, stressigen Gesellschaft, in der wir durchgehend mit Konsumversprechen berieselt und mit Parolen bedrängt werden. Aus dem Rückzug ins heimische Wohnzimmer ist eine Einigelung in eine Netzwerk-Bubble geworden, in der man alles, nur keine Ruhe und Ausgeglichenheit findet. Jeder von uns steht mit einem Fuß vor dem Burnout. Nicht nur Workaholics. Gerade auch die, die sich der umfänglichen Medienpräsenz ausliefern.

Ich laufe gleich Amok!

Ich gebe zu, das ist leicht vereinfacht – aber deshalb nicht falsch. Eine alte Redensart ist es, dass man lapidar sagt, man drehe gleich durch. Wenn einem etwas zu viel wird – zum Beispiel. Oder man sagt sogar, man laufe Amok. Gemeinhin sagt man das als Metapher. Nun scheint es so, als habe man die Metapher hinter sich gelassen. Wir leben in einer Zeit, in der viele alles wörtlich nehmen. Eben auch solche sinnbildlichen Vergleiche. Sie drehen wirklich durch, laufen tatsächlich Amok. Die Verhältnisse sind offenbar so, dass sie das nicht einfach nur mal so sagen, sondern auch tun. Die Zeiten begünstigen Psychosen.

Wir vereinsamen in der Masse, finden immer weniger Rückzüge, die auch verdienen als solche betrachtet zu werden, kappen mehr und mehr soziale Bande zugunsten von Netzwerken, die sich »soziale« nennen, aber die dort herrschende Anonymität nur in ein Korsett aus Algorithmen und Beliebigkeit pressen. Dort und in der Öffentlichkeit steppt der Skandalismus, die Empörungsökonomie, die keine Ruhe finden, keine Ruhe lassen, aufpeitschen, nicht lockerlassen. Da finden viele nicht mehr raus, insbesondere jene nicht, die psychisch vorbelastet sind. Sie leiden ganz besonders unter dieser nimmermüden Molestokratie. Dass da einige darunter sind, die Gewalt anwenden – gegen sich und auch gegen andere -, ist eine Sache der Wahrscheinlichkeit.

Man darf es sich natürlich absolut nicht so einfach machen, indem man jetzt psychisch Erkrankte zu Gefährdern erklärt. Zumal selbst Leute, die einer seelischen Krankheit unverdächtig sind, ganz genauso Schwierigkeiten mit einer Welt haben, die so gut wie jeden Tag wie ein Torpedo in unser Leben einschlägt – ja, die man uns wie ein Pulverfass ohne Garantien und Gewissheiten unterbreitet. Wie oft ertappe ich mich dabei, dass ich mir die Haare raufe und feststelle, dass ich gleich Amok laufe. Sprichwörtlich gemeint natürlich – wenn Stress und Betriebsamkeit an einem nagen und alles auf einen einprasselt. Für jene, die sich jetzt Sorgen machen: Nein, ich plane nichts. Absolut nichts. Aber mit Ideologie hat das Durchdrehen, das uns gesellschaftlich dermaßen zusetzt, vielleicht weniger zu tun, als angenommen wird. Eher mit der Art, wie wir leben.

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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