Was die Gesellschaft zusammenhält: Diese Leute im Publikum sicher nicht

Die bürgerliche Mittelschicht sorgt sich. Das bundesrepublikanische Selbstverständnis ist dahin; die politische Ordnung, wie wir sie im Lande kannten, gerät zum Chaos. Noch ein Besuch einer Veranstaltung, die ähnlich verlief wie letztens, als ich Cohn-Bendit zusah. Das scheint ein Lebenslügenmuster zu sein.

Der DGB und die Evangelische Kirche in Hessen luden ein. Ein Sozialpodium. »Was hält die Gesellschaft zusammen?« Anders als neulich, als in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt auf dem Podium an der Sache vorbei gequatscht wurde, hielt der Soziologe Oliver Nachtwey einen richtig guten Vortrag. In dem kam sogar mehrmals das böse N-Wort vor – das hätte es vielleicht vor zehn Jahren noch nicht gegeben, da wäre das Wort Neoliberalismus bestenfalls zögerlich geflüstert worden. Wenn das damals einer in einer Talkshow in den Mund nahm, lachten die Lobbyisten fies und fläzten sich arrogant in ihren Sesseln und stichelten: Was soll denn das sein – Neoliberalismus? Hohoho! Das ist doch Verschwörungstheorie! Das ist doch ein Kampfwort, nichts weiter. Mittlerweile fruchtet diese Mafia-Methode allerdings nicht mehr. Die hat ja auch über Jahrzehnte mit den Achseln gezuckt, wenn man die Mafia mal namentlich nannte. Etwas wie diese Mafia, das gäbe es überhaupt gar nicht. Das sei ein Hirngespinst. Eine Erfindung von Novellisten, die ihren Lesern Angst einjagen wollten. Wie schreibe man das eigentlich? M-a-f-i-a? Vielleicht steht ja was im dizionario con un po‘ die fortuna.

Hier bei diesem Vortrag kam es jedenfalls begrifflich vor. Also der Neoliberalismus – nicht die Mafia. Obgleich das nicht so viel Unterschied macht, glaubt man Roberto Savianos Ausführungen. Nachtwey schob dem neoliberalen Wirtschaftssystem die Verantwortung für Entsolidarisierung und Egoismus zu. Er und die Individualisierung – die er für nichts Schlechtes an sich halte – haben es vollbracht, dass die Menschen ein Identitätsproblem hätten. Früher organisierten sich Menschen, das »intermidiäre System« – Nachtwey entschuldigte sich mehrmals, ganz ohne Soziologenduktus kriege er es nicht hin – habe als Transformator zwischen Bürger und Politik gewirkt. Starke Organisationen wie Gewerkschaften hätten als Massenbewegung gewirkt und neben sozialen Errungenschaften ja auch kulturelle Stabilität bewerkstelligt. Die Kirche zählte er auch dazu. Ihre heutige eher schwache Stellung habe natürlich auch eine Lücke hinterlassen. Nachtwey stellte aber auch klar, dass das einem nicht gefallen muss – aber ob man will oder nicht, die Kirche hat mal Menschen Ordnung und einen Rahmen ermöglicht.

Erspart hat er sich als Soziologe dann die Frage nach Gott, gemeint ist nicht der Gottesbeweis, sondern der Umstand, dass die göttliche Ordnung ein Weltbild transformierte, in dem der Mensch sich als Mitglied einer Gemeinschaft fand. Gott war insofern auch Identität. Houellebecq weist an mehreren Stellen seines gesamten Werkes darauf hin: Der Liberalismus habe kein Surrogat geschaffen, keinen Ersatz für die Profanisierung. Angelegt war diese Ersatzlosigkeit schon im Projekt der Aufklärung. Wie gesagt, ob einem das gefällt oder nicht: Irrelevant. Es ist nur ein Nachruf, keine Rechtfertigung.

Der Soziologe entschuldigte sich an einer Stelle, er müsse das jetzt sagen, diejenigen, die die Gesellschaft wirklich gefährden, das sind das obere ein Prozent. Verhaltener Applaus. Dass es der gemeine AfD-Wähler ist, der uns alle an den Rand der Verzweiflung bringt, das war doch als ausgemachter Konsens für den Abend geplant. Jetzt kommt der Mann mit so einer Erkenntnis daher. Später in seiner Rede kommt er auf die wirtschaftliche Situation zu sprechen, die im Vergleich zum Ausland ja oberflächlich annehmbar aussähe. Nie waren so viele Menschen beschäftigt wie in diesen Tagen. Man sollte aber nicht den größten Niedriglohnsektor Europas vergessen, warf er in die Runde. Und die Leiharbeit. Vielleicht sollte man Leiharbeit ja auch abschaffen. Zögerlicher Applaus. Ging es nicht um den Rechtsruck? Was hat denn bitte der Paketbote, die Servicekraft oder unsere liebe Putzfrau Olga mit der ganzen Angelegenheit zu tun? Olga darf ja nicht mal bei uns wählen, die serviert uns also ganz sicher nicht die AfD.

Was hält also unsere Gesellschaft zusammen? Nachtwey nannte da ja die intermediären Organisationen, die als machtvolle Player Vermittler waren und die heute schwächeln. Individualisierung auch hier, man organisiert sich weniger, jeder macht sein Ding. An sich, so legte er jedoch gleich zu Anfang fest, frage der Soziologe weniger, was die Gesellschaft zusammenhält als was sie auseinanderreißt. Das Publikum war an sich ja sehr aufgeschlossen, mehrfach gab es lauten Applaus, als er die Kirche lobte zum Beispiel. Aber bei den wichtigen Punkten, da war man nicht ganz so empathisch. Dass es ganz viele im Publikum sind, die diese Gesellschaft gleichwohl spalten, konnte man auch ganz formidabel bei dem jungen Mann sehen, der eine Reihe vor uns saß. Er hielt sich einen Stuhl frei, legte seine Jacke darauf ab und genehmigte sich so nebenher Bein- und Flankenfreiheit in der doch sehr beengten Atmosphäre. Einige Zuhörer fragten ihn, ob da noch frei wäre, aber er verneinte, da komme ja noch jemand. Ein älterer Herr musste sich daraufhin auf die Treppe setzen. Der Stuhl blieb den Abend über leer, nur die Jacke fand darauf Platz.

Neulich besuchten wir eine Podiumsdiskussion in der Jüdischen Gemeinde der Stadt, auch da war die AfD die Instanz, die man zur Ursache der Misere erklärte. Dass sie Symptom ist: Man hörte so wenig. Cohn-Bendit, der den Abend damals leitete, war sogar der Ansicht, dass es gar keinen Grund für die AfD gäbe. Darüber sprechen wollte er aber dennoch. Da scheint sich im liberalen Bürgertum und seiner politischen Bildung eine Lebenslüge zu manifestieren. Man hört nicht so gerne, dass die neoliberale Party, von der man wahrscheinlich profitiert hat, verantwortlich sein soll. Dieser neue Viktorianismus, die neue Hack- und Gesindeordnung, die mit der Agenda 2010 ins Land schwappte, hat doch das Leben für die obere Mittelschicht erleichtert, Arbeit und Dienstleistung kostet weniger, es müssen sich mehr Menschen als Handlanger verdingen – Hartz IV hat Abhängigkeiten geschaffen. Vor allen auch bei denjenigen, die nicht Hartz IV beziehen wollen und dafür alles tun und sich alles gefallen lassen.

Diese Leutchen haben gelernt, dass Gesellschaft ein Prozess ist, in dem Gesinde die Unannehmlichkeiten regelt. Kurz bevor Nachtwey anfing, verließ unser Nebenmann seinen Stuhl. Nach einer Weile kam jemand und fragte, ob hier noch frei sei. Wahrscheinlich, gaben wir zur Antwort. Der Vorgänger stand ohne ein Wort auf und war raus. Nach fünf Minuten kam der allerdings zurück, wollte wieder auf seinen Platz. Der Nachfolger räumte ihn anstandslos, dann raunte er uns an, wir hätten ja aufpassen können. Meine Partnerin legte ihm dar, dass sie nicht seine Gouvernante sei. »Was laufen Sie auch weg, wenn es gleich losgeht?« Jetzt wollten wir wohl auch noch festlegen, wann er was tun dürfe und was nicht, antwortete der Kerl. Das sei ja drollig. Solche Herrschaften können sich Gesellschaft offenbar nur noch als Anspruchshaltung an alle anderen denken, die für sie da zu sein haben. Da zu sein haben als Aufpasser und Dienstleister. Sie halten diese Gesellschaft sicher nicht zusammen, gehen aber zu Veranstaltungen, die sich damit befassen.

Die AfD ist ohne solche Leute nicht denkbar. Das liberale Bürgertum zeigt in so vielen Reaktionen den eigenen Eskapismus. Es hat noch nicht verstanden, dass dieser Wirtschaftskurs fahrlässig ist. Offenbar denkt es, mit Solidaritätsbekundungen und einem gezeigten Gesicht gegen Rassismus und Fremdenfeinde könne man die Sache schon wieder in den Griff kriegen. Eine glatte Lebenslüge nennt man so einen Vorgang. Aber es war sicherlich ein gelungener Abend für diese fein rausgeputzten Leute. Was kümmert sie das Soziologengeschwätz von gestern denn noch heute?

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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Heldentasse
Heldentasse
Gast
6 Jahre zuvor

Ein guter Artikel!

Cohn-Bendit, der den Abend damals leitete, war sogar der Ansicht, dass es gar keinen Grund für die AfD gäbe.

Der Herr müsste m.E. eigentlich Cohn-Bandit heißen, gehört er doch zu der neoliberalen Bande, die zusammen mit den Sozen den Sozialstaat geschliffen haben, und damit erst den Nährboden für die AfD bereiteten.

Des weiteren glaube ich, dass dieser gesellschaftliche Wahnsinn (Entsolidarisierung, Ausbeutung von Mensch und Natur, Spaltung usw.) viel tiefer begründet ist, KenFM legt diesbezüglich mit nachfolgenden Beitrag den Finger in die Wunde. Manche mögen glauben, diese Ausführungen sind OT, nach meinem Verständnis sind sie es aber überhaupt nicht!

Beste Grüße

Tagesdosis 14.2.2018 – Folie á deux, wenn der Wahnsinn ein Virus ist

Aufgewachter
Aufgewachter
Gast
6 Jahre zuvor

„Ihr dagegen behandelt die Armen geringschätzig. Habt ihr denn noch nicht gemerkt, dass es gerade die Reichen sind, die euch unterdrücken und vor die Gerichte schleppen?“

Jak 2,6 aus der Bibelübersetzung „Hoffnung für Alle“. Jakobus ist übrigens der Bruder von Jesus.

Die Lösung steckt in jedem von uns selbst / Aber es fängt bei uns an / Nächstenliebe also gegenseitiges Geben und Nehmen
https://aufgewachter.wordpress.com/2018/02/02/die-loesung-steckt-in-jedem-von-uns-selbst-aber-es-faengt-bei-uns-an-naechstenliebe-gegenseitiges-geben-und-nehmen/

Kristana
Kristana
Gast
Reply to  Aufgewachter
6 Jahre zuvor

Und da schließt sich der Kreis zum Artikel – mit den Kirchen. Die wollen von Jakobus nicht viel wissen. Die halten sich lieber an Paulus: „wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ 2Th 3,10
Macht ja Sinn. Sind ja selber die Reichen.

Mordred
Mordred
Gast
6 Jahre zuvor

Vor dem Vortrag kannten die Leute Neoliberalismus nur als irgendwas mit Privatisierung und Leiharbeit notwendig wegen Globalisierung. Nach dem Vortrag haben sie laut Dir gelernt, dass darunter auch noch Spaltung und Vereinzelung der Gesellschaftsmitglieder gemeint ist. Ansonsten kennen sie Neoliberalismus vielleicht noch als Schimpfwort der Linken in Talkshows, wo dann ca. 90 Sekunden am Stück Floskeln dargebracht werden.
Natürlich reicht das längst nicht, um die AFD von Ursache zu Symptom zu bekommen.

Kraftquelle
Kraftquelle
Gast
6 Jahre zuvor

Hartz IV hat Abhängigkeiten geschaffen. Vor allen auch bei denjenigen, die nicht Hartz IV beziehen wollen und dafür alles tun und sich alles gefallen lassen.

Das zum Einen, als Maßnahmenpaket zur Disziplinierung der Bürger und zum
Machterhalt des Geldadels. Zum Anderen ist Hartz IV mit Mindestlohn ein
Booster für die Schattenwirtschaft.

Mit jeder Erhöhung des Mindestlohnes steigt das Ausmaß der Schwarzarbeit in den
personalintensiven Branchen ( Bau, Reinigung, Pflege, Kreativ usw. )
Da kostet die Kontrolle mehr als das was reinkommen könnte.
Wenn mehr in der Kasse des Fiskus landen soll, müssen sozialversicherungspflichtige
Voll-, und Teilzeitstellen geschaffen werden.

Ich finde dazu kein schlüssiges Konzept im Gro-Ko-alitionspapier.

Reinard Schmitz
Reinard Schmitz
Gast
6 Jahre zuvor

Beschämend hervorragend. Oder wie sagt man, wenn einem bei jeder Würdigung unwohl ist?

Art Vanderley
Art Vanderley
Gast
6 Jahre zuvor

Diese „Gouvernanten-Szene“ ist hochinteressant, Ähnliches erlebe ich auch immer wieder. Alltagssituationen, in denen jedem, der sein Gehirn noch nicht völlig weggespült oder weggeschluckt hat, klar sein müßte, daß er selber verantwortlich ist. Und dennoch wird ein ganz selbstverständliches „Recht“ auf Abwälzung auf Andere gelebt, mit einer Dreistigkeit, zu der man selber gar nicht fähig wäre, würde man sich noch so sehr anstrengen.
Vorfahrt für die Asozialen, in allen Bereichen.
Eigentlich ein Thema für Konservative, wo bleibt sie denn, die „konservative Revolution“?

Macht mich das zum Narren
Macht mich das zum Narren
Gast
6 Jahre zuvor

zum Selbstdenken:
Es gibt natürlich ein Drumherum und, andere Zusammenhänge – ich saß nämlich eben auf dem Klo… Da kam mir übrigens der Gedanke, daß es ein Motiv innerhalb einer Utopie sein könnte, den Menschen Frieden zu geben, in dem damit aufgehört wird, daß sie Begrenzen, in dem sie ihre eigenen Interessen, oder unbeabsichtigt jemand anderes Interessen in den Vordergrund rücken… und, das ist schwierig, wie ja bereits unzählige male geschichtlich dokumentiert, ob nun im „Genderismus“ oder in Orwells’84, oder eben an der Stelle, an der Rio Reiser sang „Alle Türen waren offen“ *uUups!*

Kasimir
Kasimir
Gast
6 Jahre zuvor

OFF

Ein Drittel der Hartz-IV-Sanktionen trifft Kinder

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-02/bundesagentur-fuer-arbeit-hartz-4-sanktionen-kinder

Was passiert mit unserem Sozialsystem im freizügigen Europa, wenn wir die Sanktionen streichen, Frau Kipping ?
Die Analyse ist richtig, die vorgeschlagene Lösung ist reiner Populismus.

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