Halts Maul, du Opfaaa!

Wie es die AfD so genießt, sich in die Rolle des Opfers zu begeben. Die AfD? Natürlich, die auch. Ansonsten gilt aber: Sich als Opfer zu fühlen ist mittlerweile Zeitgeist. Man findet dieses Verhalten ständig und überall. Auch in Gefilden weitab der AfD.

Vor einigen Wochen wollte mir via Facebook jemand seine Sicht der Dinge zum »Sex-Vertrag« darlegen. Die Person postete und postete, ich bekam dauernd Meldungen, aber die Posts waren nicht lesbar. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz war da noch ganz frisch, es »wirkte« noch schlechter als jetzt. Da wurden ganze Kommentare offenbar vorab getilgt. Nach und nach konnte ich zwei der vielen Kommentare lesen, wenn auch verborgen. Facebook hatte die Kommentare einfach ohne Erklärung ins Verborgene geschoben. Dort ließ sich die Person bitter über uns neulandrebellen aus, erst würden wir solche Meinungsbeiträge einstellen und dann, wenn Kritik kommt, gnadenlos alles weglöschen. Mimimi. Schon wieder so ein Opfer – in der Rolle gefiel sich die Person offenbar gut.

Dieser an sich nichtige Vorfall zeigt eigentlich ganz gut, in welchem Zeitgeist wir uns manövriert haben. In einen, in dem sich Einzelpersonen und Gruppen in erster Instanz immer mit Vorliebe viktimisieren. Die Opferrolle ist ein Faktor bei der Imagegebung geworden. Der Blick auf ein Opfer wirkt immer gleich ganz anders, als der Blick auf jemanden, der sich nicht so gerne opfert. Wobei das Opfer keine stille Rolle einnimmt in diesem Diskurs. Es ist nicht zurückhaltend, sondern offensiv, ja teils sogar aggressiv, weil es das an ihm begangene Unrecht unbedingt laut artikulieren will.

Das sei »die Opferfalle« behauptet Daniele Giglioli in seiner gleichnamigen Kampfschrift. Darin thematisiert er die in heutiger Zeit verbreitete Lust, sich als Opfer zu sehen, was aber gleichzeitig eine politische Suche nach der Zukunft erschwert oder sogar ersetzt. Das Gefühl der Viktimisierung suggeriert eine Ohnmacht, die es eigentlich abzustellen gilt, sofern man als Subjekt der Geschichte gestalterisch werden möchte. Die Opferfalle macht wehrlos, wo politisch um Mitbestimmung und Veränderung gekämpft werden sollte.

Diese Haltung, die wir heute wirklich fast überall beobachten können, im politischen Diskurs (»Wir sind die Opfer der Globalisierung!«, »Die Linke ist bloß ein Kampagnenopfer!«) ebenso, wie im gesellschaftlichen Kontext (»Autofahrer sind die Melkkuh für alles!«, »Jungs dürfen nicht mal mehr sie selbst sein!«) oder auf persönlicher Ebene (»Er alleine hat die Beziehung ruiniert!«, »Ich will sofort drankommen, ich bin ein Notfall!«), ist fast zur Normalität geworden. Zum Benehmen einer ganzen Epoche, in der Verantwortungslosigkeit als ein ganz normaler menschlicher Akt begriffen wird, als der Preis der Individualität quasi.

Nur das Opfer, so glaubt man innerhalb dieser Kommunikationsstrategie, lenke die Aufmerksamkeit auf sich. Wer gelassen und als autonome Person oder Gruppe argumentiert, vorbringt oder hinweist, der könne schnell in Vergessenheit geraten – oder sich gar nicht erst Gehör verschaffen. Das Spiel mit ethischen Triggern aber, die Zurschaustellung des eigenen Opferstatus‘ zur Belegung moralischer Marker, verspricht eine Chance auf Wahrnehmung. Dabei muss man in der Opferrolle nicht mal auftreten, wie Psychologen Opfer kennenlernen. Nicht passiv, nicht leise, sondern durchaus derb, laut und oft auch vulgär. Man denke hierbei an die AfD und ihre Opferrolle als Außenseiter und Anwalt eines aussterbenden Volkes.

Der selbstbestimmte Mensch, der den Ausgang aus der Unmündigkeit sucht und findet: Der ist aus der Mode geraten, so scheint es. Jener Bürger also, der sich qua seines Verantwortungsbewusstseins definiert und auf dieser Grundlage Lebensentscheidungen trifft oder sich politisch engagiert, wird ersetzt durch das Opfer. Der durch seine eigene Viktimisierung Getriebene übernimmt das Kommando. Und mit ihm weicht der Gestaltungswille von der Agenda. Opfer gestalten nicht, sie machen sich selbst klein und wehrlos. Sie kultivieren Minderwertigkeitskomplexe und Selbsterniedrigung: Mit der Autonomie ist das nur schwer vereinbar.

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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Drunter+Drüber
Drunter+Drüber
6 Jahre zuvor

Auch wenn das Folgende nur einen begrenzten und historisch bedingten Zusammenhang aufweist, möchte ich nicht versäumen, auf die neuesten Vergasungstests der deutschen Automobilindustrie an Menschen und deren Affen hinzuweisen. Das tut ja sonst Keine.

R_Winter
R_Winter
6 Jahre zuvor

Sich als Opfer zu fühlen ist mittlerweile Zeitgeist. Man findet dieses Verhalten ständig und überall.

….und dieses seit Jahrzehnten……..

Das sei »die Opferfalle« behauptet Daniele Giglioli in seiner gleichnamigen Kampfschrift.

Nein, es gibt keine „Opferfalle“. Es ist eine Strategie im politischen Bereich (national und international), seitdem das Korrektiv „Staaten mit kommunistischer Ideologie“ nicht mehr existiert und der Neokapitalismus unbeschränkt dominiert. Vor 15 Jahren hatten auch die Parteien in Deutschland erkannt, dass zum Durchsetzen der eigenen, neoliberalen Vorstellungen, auch in den eigenen Reihen eine „Opposition“ (Opfer) erforderlich sei – man war Regierung und Opposition (Opfer) zur gleichen Zeit. Besonders perfide wurde es unter Fischer bei den Grünen und Schröder mit den Gewerkschaften praktiziert.

Nein, es gibt keine „Opferfalle“, sondern nur ein „“Kommando“, dass den Bürgern permanent Sand in die Augen streut, Unwahrheiten verbreitet und Feindbild aufbaut.

Lutz Lippke
Lutz Lippke
6 Jahre zuvor

Ich denke wie wohl auch Roberto, dass der neue „Opfer“-Kultismus nicht nur ein abgekartetes Spiel neoliberaler Strategen ist, sondern symptomatisch für das weitverbreitete Lebensgefühl und Gesellschaftsverständnis. Auch die Zuweisung der Verursachung an Neoliberale impliziert eine Opferrolle des Erklärenden. Auch die Werbebotschaft „Sind sie zu stark, bist Du zu schwach!“ wird nicht ungültig, nur weil sie im konkreten Fall ungerecht oder sogar zynisch ist. Wer Opfer ist oder sein will, muss sich auch Schwächen eingestehen, um darunter zu leiden. Er darf auf Hilfe hoffen, eine Änderung der Verhältnisse einfordern und dafür Kräfte sammeln. Aber die Vorstellung vom Recht auf Genugtuung durch Betrafung / Zerstörung / Zerschlagung der Täter ist nichts weiter als Rache nehmen. Rache – das Tatopfer dieser Opfertat ist nicht selten von vornherein das eigentliche Tatziel gewesen. In Zeiten hektisch wechselnder Aufmerksamkeitskampagnen sollte die Frage: Wem nützt/schadet es wirklich? häufiger gestellt werden.

ert_ertrus
ert_ertrus
6 Jahre zuvor

»Jungs dürfen nicht mal mehr sie selbst sein!«
Demnächst: »Jungs dürfen nicht mal mehr an sich selbst ran!«

😉

ert_ertrus
ert_ertrus
6 Jahre zuvor

War ein Scherz im Sinne von Woody Allen 😉 Mit Humor leicht dekodierbar …

Bernie
Bernie
6 Jahre zuvor

J. de Lapuente

Zunächst einmal guter Text, aber hat „die Opferfalle“ nicht zwei Seiten?

1. Die Leute, die du zurecht kritisierst.
2. Echte Unrechtsopfer, deren Unrecht niemand interessiert?

Nur mal so als Anmerkung, denn mir, der ich derzeit in einer extrem schwierigen Lebensphase stecke in die ich ohne eigenes Verschulden gelangt bin fällt mir in unserem modernen, neoliberalen Deutschland, sogar an Weihnachten auf, dass man sich lieber nicht mit dem Unrecht abgeben will, dass einem umgibt.

Wäre wohl einen eigenen Thread wert, das Janusgesicht des Begriffes Opfer, und die Leugnung von real, existentem Unrecht in Deutschland, und dem Rest der Welt – und dies sogar an Feiertagen, wo man doch Unrecht anprangern sollte.

Übrigens, wenn man mir die Opferrolle aufdrängen will, dann bringe ich in meiner Umgebung immer den zynischen Witz, dass nur eine Person alle Schuld der Welt auf sich genommen hat, damals in Golgatha, und das bin nicht ich.

Gruß
Bernie

Bernie
Bernie
6 Jahre zuvor

J. De Lapuente

Danke für die Klarstellung, die mir die Sache doch etwas verständlicher macht.

Gruß
Bernie

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