Wie wir das „Wir“ für unseren Seelenfrieden missbrauchen
Ich kann es echt nicht mehr hören! Dieses kleine Wort „Wir“. Es wird missbraucht, benutzt und zurechtgebogen.
Sprechen wir über die Fußball-Weltmeisterschaft, über ein erfolgreiches Tennis-Match oder über die Tatsache, dass ein Deutscher einmal Papst war, dann sind wir (ja, wir!) dabei. Bei der Willkommens-Kultur (die Älteren werden sich erinnern) war es auch so: Wir waren herzlich, mitfühlend, solidarisch, wir fühlten uns denen verbunden, die flüchten mussten. Aber da geht es dann auch schon los und funktioniert nicht mehr so gut. Denn dieses merkwürdige „Wir“ legen wir (ja, verdammt nochmal, wir!) uns zurecht, wie es gerade passt.
Denn wenn wir eben nicht gerade Papst geworden sind oder ein anderes freudiges Ereignis uns beglückt, dann distanzieren wir uns schneller, als ein Lämmlein mit dem Schwanz wackeln kann.
Wir sind die Guten. Auf diesen Zug springt jeder gern auf, denn zu den Guten zu gehören, ist ja nun fraglos eine feine Sache. Sind wir aber gar nicht immer, sogar ziemlich selten, wenn man die Sachlage genauer betrachtet. Sobald man das aber tut, wird aus dem „Wir“ in Bruchteilen von Sekunden ein „Ich“.
Wenn es unbequem wird, wenn man sich womöglich der eigenen Verantwortung – und sei sie noch so klein – stellen muss, dann ist das Wir dahin. Ich erlebe das regelmäßig bei Texten, in denen ich darüber schreibe, dass „wir“ als Exportweltmeister für die desaströse wirtschaftliche Situation in den südlichen europäischen Ländern verantwortlich sind. Wenn ich erwähne, dass „wir“ zu den größten Rüstungsexporteuren der Welt gehören. Wenn ich anmerke, dass „wir“ die Altersarmut im eigenen Land begünstigen. Ich kann gar nicht zählen, wie ich oft ich dann in den Kommentaren oder auch in Mails lese: „Also, ich bin nicht dafür verantwortlich.“ oder: „Ach komm, ich hab keine Waffen verkauft“ oder „Mit der Altersarmut hab ich jetzt nun echt nichts zu tun.“
Tja, also, doch, irgendwie schon. Denn wir haben diese Regierung gewählt, wie zuvor auch schon, und davor auch. Und wer jetzt auch immer sagen mag, dass das ja nun so auch nicht stimmt, weil er Merkel, Schröder oder Kohl nicht gewählt hat, der kann sich doch deswegen nicht aus der Verantwortung stehlen, mich selbst natürlich eingeschlossen. Immerhin hat auch niemand von „uns“ dafür gesorgt, dass man ein Deutscher Papst wurde oder unsere Nationalmannschaft gute Kicks hingelegt hat. Aber in diesem Erfolg sonnen wir uns doch gerne. Da wird nicht großartig differenziert, ob wir Fußball spielen können oder an einen (deutschen) Gott glauben.
Also, bitte schön, wehrt Euch doch nicht so vehement gegen das „Wir“. Betrachtet es als Chance, als Möglichkeit, als Teil des großen Ganzen dazu beizutragen, dass es uns mit dem „Wir“ besser geht. Weil wir dafür kämpfen, dass es besser wird. Weil wir uns dafür einsetzen, dass mehr Gerechtigkeit herrscht, dass weniger Kriege von Deutschland aus mitgeführt werden. Weil wir die Armut bekämpfen.
Sich dem „Wir“ zu stellen, wenn es unbequem wird, sich als Teil dieses „Wir“ zu fühlen, auch wenn wir es verurteilen und uns Besserung wünschen, das ist ein guter Schritt. Sich dagegen aus dem Verantwortungsstaub zu machen, wenn es ungemütlich wird und aus dem ungewollten „Wir“ ein moralisch sauberes „Ich“ zu machen, das ist nicht konstruktiv. Und macht aus niemandem einen besseren Menschen.
Das „Wir“ stößt den Bürgern als Worthülse im Politsprech übel auf, weil das „Wir“ als Metapher für Gemeinsinn von denen missbraucht wird, die bei gleichzeitiger Verwendung des „Wir“ sämtliche Grundlagen eines gemeinwohl-orientierten Denkens zerstörten. Das „Wir“ wurde demontiert und das „Uns“ privatisiert.
„Wir schaffen das!“
Wer sind „Wir“ und wer bist „Du“ ?
Dabei wird die Bedeutung des „wir“ ganz klar missbraucht, wenn nämlich die Herrscher von „wir“ sprechen meinen sie immer „ihr“ wenn es ans Eingemachte geht. Dabei wäre dieses „wir“ nur angebracht für die 1 bis 5% Oberschicht wenn es um einen Platz an den Fleischtöpfen geht, aber auch hier tun die immer so als ob wir alle mit daran sitzen würden, obwohl wir sie ja füllen müssen.
Beste Grüße
P.S.: Gina Pietsch – Die Ballade vom Wasserrad
Um „uns“ und insbesondere „unseres“ geht es beim Eingemachten ohnehin. Wir sollen Autobahngebühren bezahlen um auf unseren Autobahnen fahren zu dürfen, und unsere Atomkraftwerke, auf unsere Kosten abreißen damit die Stromkonzerne nicht ihre Gewinne dafür einsetzen müssen. Wir sollen unsere Krankenpfleger in unseren Krankenhäusern schlecht bezahlen, damit sie uns unter Zeitdruck vergessen wenn es uns im Krankenbett dreckig geht.
Das ist der Preis für eine individualisierte Gesellschaft. Man merkt halt nicht mehr wenn man verarscht wird.
Leider ein indifferenter, unkritischer bis fast völkisch gefärbter Text.
Soll ich jetzt, „WIR sind das Volk“ gut finden oder den ausgrenzenden Wahlslogan der SPD „Auf das WIR kommt es an?“
An der Tatsache, dass sich hinter dem WIR das Individuum auflöst, gibt es meines Erachtens nichts zu beschönigen.
„Also, bitte schön, wehrt Euch doch nicht so vehement gegen das „Wir“. Betrachtet es als Chance, als Möglichkeit, als Teil des großen Ganzen dazu beizutragen, dass es uns mit dem „Wir“ besser geht.“
Wenn es um „Große Ganze“ geht, schrillen bei mir die Alarmsirenen.
„Wir“ ist übrigens auch das von Linken geschmähte Pluralis Majestatis. Hier erfährt es eine Neuauflage!
Mehr Blödsinn geht nur sehr, sehr schwer.
abgesehen davon, dass ‚das individuum‘ eh nur sehr kurze zeit hinter dem ‚wir‘ hervorgetreten ist, interessiert mich viel mehr die die antwort auf die frage, wer das wieder auflöst als wohin das geschieht. dieses individuum, dieses produkt kapitalistischer ausbeutungslogik, hat ja nun überhaupt keine attraktivität gegenüber dem unaufgeklärten feudalistischen vereinnahmungswir. umgekehrt gilt das natürlich ebenso.
gibt es da so eine art stagnation oder gar rückentwicklung des politischen bewusstseins? wenn ja, wie können wir diese entwicklung wieder umkehren?
ich weiss was:
eine maßnahme wäre die enttabuisierung oder entdämonisierung von begriffen wie sozialismus und kommunismus, um wieder sprachmaterial zu haben, mit dem wir sachen beschreiben können.
Das geht ja gar nicht. Damit wäre dem Volk ja die Möglichkeit gegeben sich politisch unkorrekt auszudrücken. ?
Ein kleiner Artikel, der mir aber voll aus der Seele spricht. Wir müssen begreifen das wir als scheinbar einzig bekannte intelligente Spezies die Mitverantwortung haben im kleinen wie im Großen, für uns für unsere Familie, unsere Freunde aber auch die Menschen die wir nicht kennen, und sogar, weil wir mittlerweile im Anthropozän leben, für den ganzen Planeten.
Nur wenn wir das erkennen kann sich was ändern, wenn für weiter machen wie bisher gehen wir alle vor die Hunde, nicht nur physisch sondern auch psychisch, und das betrifft auf die Dauer nicht nur die Habenichtse sondern auch die Habenden und Herrschenden.
Im übrigen bin ich diesbezüglich sehr pessimistisch, dass wir noch die Kurve kriegen.
Beste Grüße
Noch nicht einmal Nichtwaehlen entbindet von dem „wir“.
Solange man hier lebt und von der Aufrechterhaltung der ausbeuterischen Weltordnung mitprofitiert ist man auch mitverantwortlich. Wenn auch in verschiedenem Ausmass.
Meiner Meinung nach ist „ungültig wählen“ der einzige Weg Protest zu demonstrieren.
Das bringt m.E. gar nichts, da kann man auch gleich Zuhause bleiben.
Bis 2011 konnte man mit der Wahl einer Kleinstpartei (z.B. die Tierschutzpartei) den großen etwas den Geldhahn zudrehen, aber das funktioniert heute leider auch nicht mehr.
Allerdings wenn sich viele Nichtwähler/ Ungültigwähler entschließen würden ihre Stimmen auf viele Kleinstparteien (alle unter 5%) zu verteilen, käme der Anteil „Sonstige Parteien“ in Summe schon eine beachtliche Bedeutung, und würde die Verhältnisse gerade rücken.
Z.B. Der Stimmenanteil von 20% für die Sozen bei 50% Wahlbeteiligung, würde so auf auf bis zu 10% gedrückt werden können. Wobei ich mir immer noch die Frage stellen, wo die „echten“ 10% Wahnsinnsheinze herkommen, die immer noch diese Partei wählen?
Beste Grüße
Leider erfolglos gewesen, also meine Klage vor dem Verwaltungsgericht, denn als Niedersachse kann ich mich nicht direkt an den Staatsgerichtshof mit einer Verfassungsbeschwerde wenden, nachdem meine Wahlanfechtung (Kommunalwahl) abgewiesen wurde.
Eine Beschwerde beim BVerfG. gegen die Landesverfassung, die mir weniger Rechte gewährt als das GG, wurde auch nicht angenommen.
Deswegen, erst wenn die sogenannte Demokratie, also die zur Zeit real existierende, als das enttarnt wird, was sie ist … kann vielleicht irgendwann eine echte Herrschaft des Volkes … nach der zwischenzeitlich erreichten Diktatur … aber ich habe berechtigte Zweifel … dass es eine echte Herrschaft des Volkes jemals geben wird.
Denn dann müssten wirklich alle Bürger politisch mündige Bürger sein. Utopisch.
Wenn die Linke sich weiter so zankt dann werde ich wohl „Die PARTEI“ wählen.
Schließlich sagt sie von sich: „Die endgültige Teilungs Deutschland – Das ist unser Auftrag“ 😉
@Schweigsam
Laß mich raten!
Du bist ein Franke.:-)
Es ist doch sehr müßig über Begriffe wie das „wir“ nachzudenken während da draußen augenscheinlich große Schweinereien abgehen. Und das macht u.a. Jens Berger aus, weil er in seinen Artikeln sehr deutlich bzw. konkret die Ungerechtigkeiten bzw. den deutschen Schimmel aufdeckt, ohne dabei in typisch linken Begrifflichkeiten oder Theorien zu verfallen. Und damit kann man auch Menschen erreichen, die hier öfters als „Michel“ abfällig bezeichnet werden.
Wir?
Ich bin Iraner.
echt?
chi tour hastid? xub hastid? saate shoman xub hast? farsi baladi?
kujoh budin, nasreddin?
Den Gebrauch des „Wir“ sehe ich entspannt, ebenso wie die Identifikation mit „Unserer“ Fußballmannschaft. (Obwohl ich selbst bisher noch jede Fußball-WM ausgelassen habe.)
Ich empfinde die Verbindung des umgangssprachlichen „wir“ mit irgendwelcher Verantwortung als überbetont. Ich selbst verwende das Wort mit der normalen Distanz ohne jedes Unbehagen.
WIR = Wirtschaft, Industrie, Rüstung
Dann paßt’s doch 😉