Umweltschutz, Tierwohl, Krankenversicherung: Wir sind die Netten!

Kürzlich habe ich ein Video mit dem Titel „Spendensammler undercover – Schuften und Schleimen für WWF & Co“ gesehen. Der YouTube-Kanal heißt „STRG_F“, und in seinem Auftrag hat sich ein Journalist als Spendensammler unter anderen für den WWF und die Kindernothilfe verdingt. Um dann darüber zu berichten, was er erlebt hat.

Was ich in der kurzen Doku sah, kam mir mehr als bekannt vor.

Manipulieren für den guten Zweck

Weder der WWF noch die Kindernothilfe machen sich selbst die Finger schmutzig. Sie outsourcen die Arbeit der Spendensammlungen an externe Agenturen. Und die nehmen ihren Job sehr genau.

In der Doku erfahren wir, dass die Spendensammler mit blumigen Worten angeworben werden (ähnlich blumige Worte verwenden sie selbst dann später auf der Straße, aber dazu später mehr). Tolle Bezahlung, prima Klima und auch noch für eine gute Sache arbeiten. Was will man mehr?

Im besten Fall will man weniger, denn nur mit dieser Einstellung ist der Job überhaupt zu ertragen. Die Bezahlung ist nämlich längst nicht so toll wie vollmundig angekündigt. Je nach Organisation und Agentur kommt man unterm Strich auf ca. 3,- Euro Stundenlohn. Das prima Klima muss man sehr mögen, denn die Tage strecken sich in den zweistelligen Stundenbereich, bis man nach knallharter Kaltakquise und zusätzlichen Fortbildungen irgendwann mal ins Bett fällt.

Und die gute Sache? Vergisst man schnell, wenn man sich das 50. Nein auf der Straße abgeholt hat und gar nicht mehr weiß, für wen oder was man sich abrackert. Die Organisationen, die die Agenturen beauftragen, waschen ihre Hände übrigens in aller Regel in Unschuld. Auf die Praxis angesprochen, wirken sie überrascht und betonen, dass sie davon erstens nichts wissen und das zweitens überhaupt nicht gut finden.
Das dürfte eine sehr kreative Auslegung der Wahrheit sein.

Aber gehen wir mal ins Detail des Vertriebs.

„Sind Sie gesund?“

Ich habe vor langer Zeit rund vier Jahre für eine deutsche private Krankenversicherung (PKV) gearbeitet. Im Vertrieb. Als freier Handelsvertreter. Die Ausbildung zum Versicherungsfachmann (BWV) wurde von der Versicherungsgesellschaft bezahlt, ich erhielt für die Dauer dieser Ausbildung, die mich einmal im Monat in ein Hotel schleifte, um dort das Fachliche zu lernen, ein Fixum, das mit jedem Monat reduziert wurde. Schließlich sollte ich ja später ohne finanzielle Hilfe von meinem Job leben können.

Der Alltag bestand jedoch im Wesentlichen aus Kaltakquise, am Telefon. Es ging darum, sogenannte „qualifizierte Termine“ zu vereinbaren. Das heißt, ich musste mich mit den potenziellen Kunden für eine PKV verabreden. Dafür war jedoch die besagte „Qualifizierung“ notwendig. Denn es gibt einige Punkte, die es zu bedenken gilt:

• Der Angerufene (lieber „der“ als „die“, weil Frauen in der PKV mehr zahlen, da sie ein höheres Risiko darstellen) musste zunächst auf seinen Versicherungsstatus überprüft werden. Selbstständige können sich grundsätzlich privat versichern (die Zahlungsmoral gilt aber als Risikofaktor), Angestellte erst, wenn sie die Versicherungspflichtgrenze überschreiten. Die wird vom Gesetzgeber jedes Jahr neu festgelegt und bezieht sich auf das Bruttoeinkommen (Beispiel: Im Jahr 2020 beträgt die Versicherungspflichtgrenze 5.212,50 Euro im Monat).

• Der Angerufene muss auf seine Gesundheit hin überprüft werden. Im Gespräch muss herausgefunden werden, ob er chronische Erkrankungen hat, in psychologischer Behandlung ist oder ihn Probleme mit dem Rücken plagen. Diese und weitere Fragen sind entscheidend, damit überhaupt ein Termin sinnvoll ist. Denn die PKV siebt gnadenlos aus, und wenn die Vorerkrankungen zu brisant sind, ist eine Versicherung faktisch unmöglich oder mit hohen Risikozuschlägen verbunden.

• Der Angerufene muss auf seinen familiären Stand hin überprüft werden. Singles sind perfekte Kandidaten, wer verheiratet ist und/oder Kinder hat, muss umso genauer gecheckt werden. Denn unter Umständen kann die PKV für ihn trotzdem Sinn ergeben, unter anderen Voraussetzungen muss er seine Frau und seine Kinder mitversichern. Das kostet ein Heidengeld und ist somit ein KO-Kriterium. Auch bei Singles wäre es übrigens seriös, die Familienplanung anzusprechen. Da sich dieses Gespräch aber in eine für den Vertriebler ungünstige Richtung entwickeln kann, wird dieser Teil gern mal weggelassen.

Der Leser ahnt, dass es am Telefon, mit einem Menschen, den man bis eben nicht kannte (und umgekehrt) nicht einfach ist, an diese Informationen zu kommen. Man muss sich also Mühe geben und ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Wohlgemerkt: in wenigen Minuten eines Telefonats.

Die Kaltakquise ist eine hohe „Kunst“. Es gibt wenige, die diese Kunst perfekt beherrschen. Für alle anderen gilt, sich an einem Leitfaden zu orientieren, der auf die Qualifizierung zugeschnitten ist.

Diese Telefonleitfäden sind geschickt aufgebaut, es gibt Redewendungen, die helfen, besagtes Vertrauensverhältnis zu entwickeln, es gibt humoristische Äußerungen, die man gezielt einsetzen kann, es gibt rhetorische Mittel, um auf intime Fragen wie die nach dem Gesundheitszustand des Angerufenen trotzdem Antworten zu bekommen.

Es ist klar, dass das nicht immer funktioniert, sogar eher selten, aber das ist einkalkuliert. So wie bei den oben beschriebenen Spendensammlern für den WWF oder die Kindernothilfe, wo auf der Straße von 50 Passanten vielleicht nur einer tatsächlich bereit ist zu spenden. Der Angerufene merkt naturgemäß nicht, dass er manipuliert wird (was ja Sinn der Sache ist), und wenn er irgendwann (nach normalerweise maximal 10 Minuten) so interessiert ist, dass er einen Termin macht, hat er eigentlich schon fast verloren. Denn nun folgt das Verkaufsgespräch.

Wie genau dieses Verkaufsgespräch aufgebaut ist, erspare ich dem Leser an dieser Stelle. Aber – so viel sei verraten – es ist ähnlich manipulativ wie das Telefonat zur Terminvereinbarung.
Ebenso erspare ich dem Leser, wie die Beantwortung der Gesundheitsfragen im PKV-Antrag durchgeführt wird. Man kann aber sagen, dass es nicht jede Krankheit oder Beschwerde in den Antrag schafft. Denn oft genug wäre das das vorzeitige Aus für die Antragsstellung. Und dementsprechend auch das Aus für die fällige Provision, die nach einem erfolgreichen Abschluss gezahlt wird. Aus meiner Erfahrung kann ich aber sagen, dass die meisten Vertreter die Sache durchaus ernst nehmen. Und dann gibt es eben noch ein paar von den „wenigsten“, die gerne mal den Rat aussprechen, das eine oder andere Leiden wegzulassen, damit es auch wirklich klappt mit der neuen, ganz großartigen Gesundheitsversorgung. Klar, dass mit derlei „kreativer“ Gestaltung des Antrags auch die Risikokalkulation der PKV eine Delle bekommt, die andere Kunden indirekt bezahlen müssen.

„Kaufen Sie Wissen!“

Eine weitere Station meines kurzen Lebens als Vertriebler war Wissen, oder: Lexika. Man hat eine Weile häufiger von Fällen gelesen oder etwas im Fernsehen gesehen, bei denen es schwerfällt, sie nicht als Betrug zu bezeichnen. Die Masche ist inzwischen weitgehend Geschichte, das Unternehmen existiert nicht mehr, dennoch lohnt sich ein Blick auf das, was dahintersteckt.

Um erfolgreich Lexika (inklusive einer Wissensdatenbank, die heute nur ein müdes Lächeln des Internetnutzers hervorrufen würde) zu verkaufen, war eine Schulung nötig. Die wurde im Schwarzwald abgehalten und dauerte sieben volle Tage, inklusive Abendarbeit. Im Kern ging es um zwei Dinge:

1. Einwandbehandlung
2. Auswendig lernen

Einwandbehandlung ist für jeden Vertriebler gewissermaßen Routine. Man kennt das alte Prinzip, dass ein Nein grundsätzlich nicht akzeptiert werden darf. Oder dass man die Leute auf die „Ja-Straße“ bringen muss. Das soll hier nicht weiter Thema sein.

Interessant ist das Auswendiglernen. In unserem Fall bedeutete das, den Leitfaden für das Verkaufsgespräch komplett auswendig zu können, und zwar Wort für Wort. Wer am Abend der aktuellen Aufgabenstellung auch nur ein Wort vergessen hatte, wurde gerügt. Und das ist kein Zufall, denn der Leitfaden war perfekt ausgearbeitet, im besten Fall war eine Einwandbehandlung nicht einmal nötig, weil man den Kunden schon zuvor auf die Ja-Straße gebracht hatte. Er entkräftete also seine eigenen Einwände selbst.

Doch das eigentliche Geheimnis war gar nicht das Verkaufsgespräch, sondern die Phase des Aufwärmens. Hier hatte der Vertriebler nicht nur freie Hand, es wurde von ihm erwartet, dass er diese Phase des Gesprächs mit all seinem Charme und seinem psychologischen Geschick in die richtigen Bahnen lenkte. Diese Aufwärmphase konnte zehn Minuten dauern, sie konnte sich aber auch über eine halbe Stunde oder mehr hinziehen (je nachdem, was nötig war, um das notwendige Vertrauen aufzubauen).

War der Kunde „vorbereitet“, begann das eigentliche Verkaufsgespräch. Und bei diesem blieb nichts dem Zufall überlassen. Beim Verkauf von Lexika hatte jeder Vertriebler ein Musterexemplar mit ausgewählten Themen im Koffer. Die Themen wurden beispielhaft von A bis Z in den Band aufgenommen, die Optik wirkte hochwertig. Irgendwann schlug der Verkäufer vor, sich einmal ein paar Seiten des Buches anzusehen.

Zufällig wurde das Buch aufgeschlagen. Obwohl: Tatsächlich war dieser Vorgang das genaue Gegenteil eines Zufalls. Im Seminar hatten wir gelernt, das Aufschlagen des Buches zufällig wirken zu lassen. Doch es wurde immer dieselbe Seite aufgeschlagen (was lange geübt wurde, um keine Pannen entstehen zu lassen). Und immer ging es um eine seltene Blume, die in den Alpen wächst. Somit begann der spannende Vortrag über die Blume, und der Kunde bekam gleich noch ein Gefühl dafür, was für einen gebildeten Menschen er sich gegenübersitzen sah. Natürlich war jedes Wort über die seltene Blume zuvor auswendig gelernt worden, das hatte den Kunden aber nicht zu interessieren. Ich habe keinen einzigen Fall erlebt, in dem ein Kunde den Trick durchschaut hätte.

Die Ja-Straße kann ziemlich brutal sein. Da man mit Beginn der Aufwärmphase den Kunden immer wieder dahingehend manipulierte, potenzielle Einwände selbst zu entkräften, kam es am heißesten Punkt des Gesprächs zu einer wichtigen psychologischen Wendung. Jetzt ging es ums Verkaufen, die Preisnennung, die Erörterung von Ratenzahlungen. An dieser Stelle musste das Unterfangen eigentlich scheitern, denn das Lexikon war komplett überteuert, die Zinsen für die Ratenzahlung höher als die eines Dispositionskredites, und die vermeintliche Hochwertigkeit der Werke war nicht mehr als ein Versprechen, denn so schick die Bücher auch aussahen, den geforderten Preis waren sie nie und nimmer wert.

Der Kunde aber war nun in einer misslichen Situation. Da er selbst ja schon etliche Einwände behoben hatte, blieb nicht mehr viel für ihn übrig. Wie sollte er argumentieren, ohne sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben ? Er hatte im Laufe des Gesprächs immer wieder die Notwendigkeit der Investition begründet und gerechtfertigt, also würde er mehr als dumm dastehen, wenn er sich jetzt selbst widerlegte.
Also kaufte er.

Es ist immer für die gute Sache

Ob nun private Krankenversicherung, Lexika oder die Rettung von Umwelt und Tierwelt, die Argumentation verläuft immer gleich. Doch warum sollte das stören, wenn man doch Gutes tut?

Zunächst einmal sei dahingestellt, ob man sich selbst wirklich etwas Gutes tut. Der Wechsel zu einer PKV etwa sollte wohlüberlegt sein, und man sollte sich auch die grundsätzliche Frage stellen, ob man ein System unterstützen will, das vom Solidarprinzip nichts wissen will. Abgesehen davon rechnet sich die PKV nur, wenn man zu 100 Prozent in den gewünschten Kundenkreis passt. Ansonsten wird es später richtig teuer, und ein Zurück in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist schwer, oft überhaupt nicht möglich.

Zu den Verkäufen von Lexika braucht nichts weiter gesagt zu werden, da diese Methode sich (meines Wissens) in Wohlgefallen aufgelöst hat. Das Beispiel diente nur dazu, die Psychologie dahinter ein wenig besser zu verstehen, weil sie auf zahlreiche andere Branchen übertragbar ist.

Und der WWF und die Kindernothilfe? Auch hier kann man den Wunsch, diese und andere Organisationen zu unterstützen, auf unterschiedliche Weise betrachten. In unserem konkreten Fall aber sollte man sich bewusst machen, dass man durch das Spenden auf der Straße ein Geschäftsmodell unterstützt, das auf Druck und Ausbeutung basiert.

Alles in allem bleibt festzuhalten, dass man immer vorsichtig sein sollte, wenn „die Netten“ auf einen zukommen. Sie sind gut geschult, oft skrupellos (was durchaus mit dem eigenen, finanziellen Druck zusammenhängt), und sie interessieren sich für das, was sie da verkaufen, nicht im Mindesten. Wie auch? Sie müssen ihre Miete zahlen wie jeder andere auch. Die Agenturen, für die sie tätig sind, helfen dabei allerdings häufig nur sehr begrenzt, weil die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen so schlecht sind.

Zudem kann man sich die Frage stellen, wie seriös eine Organisation ist, die sich freiwillig auf zwielichtige Agenturen einlässt, um mehr Spenden zu sammeln.
Man könnte argumentieren, dass der Zweck die Mittel heilige.
Man könnte aber auch fragen, ob dieses Argument nicht scheinheilig ist.

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Tom J. Wellbrock

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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Folkher Braun
Folkher Braun
4 Jahre zuvor

Das erinnert mich an die 90er Jahre, als US-amerikanische Schneeball-Systeme für Reinigungsprodukte die neuen Bundesländer überfallen haben und wir haben lastzugsweise den angebrochenen Kram nach Neuss-Holzheim zurücktransportiert. Wo das Zeug geblieben ist, weiß ich nicht.
Wir haben halt reichlich halbseidene Arbeitsverhältnisse, beginnend bei § 86 HGB als freier Handelsvertreter, und von da abwärts zum scheinselbständigen Nahrungsoptimierungs-Pillen-Anbieter. Die Versicherer haben da einige Übung. Von der Arbeitslosigkeit bedrohte Industriekaufleute abgreifen, die kurz auf das Produkt schulen, und dann ab in § 86.
Insofern ist unsere Arbeitslosenstatistik etwas unpräzise. Sie sollte solche – ich nenne es mal vorsichtig – prekären Werkverhältnisse einzeln ausweisen. Der „Eismann“-Kühltrucker gehört auch dazu.

niki
niki
Reply to  Folkher Braun
4 Jahre zuvor

Das ganze ist auch dem deutschem Credo geschuldet…:
„Lieber einen scheiß Job, wo man gar andere Leute übers Ohr haut, als gar keinen…“
Wird Zeit dass wir auch mal daran gehen,…

Roberto De Lapuente
Roberto De Lapuente
4 Jahre zuvor

Wo man Empathie, soziale Verantwortung und Mitmenschlichkeit ganz besonders ausbeutet: In Pflegeberufen. Meine direkte Erfahrung mit Pflegenden ist leider, dass sie als Berufsgruppe oft zu weich agiert, sich zu viel gefallen lässt. Mittlerweile säßen sie am längeren Hebel, aber man ist eben sehr empathisch, handelt kümmerisch – man ist insofern keine Berufs- sondern eine Berufungsgruppe. Das ist ein großes Problem in diesem Komplex.

niki
niki
Reply to  Roberto De Lapuente
4 Jahre zuvor

Allgemein ist das ein Problem in einem Land wo man Egozentrik und Rücksichtslosigkeit wesentlich leichter weiter kommt, als mit Empathie und Ehrlichkeit…
Ist eigentlich schon eine Binse…