Karl Marx, Opfer der Opferverbände kommunistischen Terrors

Nach 30 Jahren haben wir in Deutschland, näher gesagt in Trier, wieder ein steinernes Abbild von Karl Marx. Die Opferverbände der kommunistischen Gewaltherrschaft lehnen das naturgemäß ab – ihre Begründung zeugt von stalinistisch eingefärbter großer Säuberung. Dabei ist eine Karl-Marx-Statue vor allem eines: Eine Karl-Marx-Statue.

In diesem Jahr, genauer gesagt am 5. Mai, wäre Karl Marx 200 Jahre alt geworden. Die Stadt Trier ließ sich hierzu von China eine mehrere Meter hohe Bronzeskulptur liefern. Sie kam als Schenkung aus Fernost an die Mosel. Die Skulptur soll an eben jenem 5. Mai feierlich eingeweiht werden. An Kritik mangelt es nicht. So hieß es unter anderem, dass man »ausgerechnet von der Kommunistischen Partei, die das größte Volk der Erde knechtet und ihre Minderheiten gewaltsam unterdrückt« (Hubertus Knabe, Historiker) eine solche Schenkung nicht hätte annehmen dürfen. Das ist freilich ein frömmlerischer Witz, denn exakt jenes Land gilt ansonsten als beliebter Handelspartner, den man mit allzu genauer Moral nicht belästigen sollte. Chinesische Waren bestimmen den deutschen Alltag: Aber eine Bronzestatue, die auf einem Platz steht, die ruiniert plötzlich das ethische Ansehen der Bundesrepublik? Eine Schenkung zudem, bei der die chinesischen Kommunisten nicht mal was verdienen – wenn wir aber deren seltenen Erden entlohnen, dann ist das kein Grund zur Beanstandung.

Neben diesem eher lächerlichen Grund kamen natürlich auch die Opferverbände der kommunistischen Gewaltherrschaft zu Wort. Dass nach 30 Jahren wieder die Statur eines überdimensionalen Marx‘ auf die Bürgerinnen und Bürger herabschaut, finden sie befremdlich. Es erinnert sie womöglich an manchen Spaziergang durch irgendeine DDR-Innenstadt, wahrscheinlich sind das psychologisch nachvollziehbare Trigger-Reflexe, wenn sie so einer Figur begegnen. Der Anblick einer solche Statue kann unter dem Aspekt des Framings nun ja tatsächlich unangenehme Erfahrungen und Erlebnisse hervorrufen oder wachrütteln. Das hätte man als Motiv für die Kritik an der Ehrung für den bekanntesten Trierer aller Zeiten noch nachvollziehen können.

Der konkrete Kritikpunkt war aber ein ganz anderer: Marx sei »nicht einfach nur ein Wissenschaftler und Philosoph, sondern Marx hat die geistigen Grundlagen für die kommenden kommunistischen Diktaturen verschiedenster Färbungen gelegt.« (Dieter Dombrowski, Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände) Das kann man jedoch so nicht stehenlassen! Karl Marx saß ja nicht an seinem Schreibtisch, um den Plan für einen politischen Zugriff auszuarbeiten. Er friemelte nicht an Gulag-Grundrissen herum und notierte nicht akribisch, wie man so einen Schauprozess mit anschließender Säuberungswelle ausführen sollte. Für Russland sah er ohnehin gar nichts, schon gar nichts dergleichen vor; Sozialismus, so glaubte er, könne nur dort voranschreiten, wo sich der Kapitalismus durch die Industrialisierung etabliert habe. Dass dann Russland die Wiege des real existierenden Sozialismus wurde, ist ja nicht einfach nur eine Marginalie, sondern die eigentliche Wurzel dafür, dass dieser Versuch dort so menschenverachtende Formen annahm. Dort hatte man nämlich Nachholbedarf – auf dieser Basis galt ein Mensch nichts.

Marx war kein Sowjet. Er war ja noch nicht mal Marxist. Ihm jetzt einfach mal den real traurigen Kommunismus in die Schuhe zu schieben, obgleich er 34 Jahre vor dessen Installierung als relativ unvermögender Mann unter Anteilnahme nur einer Handvoll Wegbegleiter in London beigesetzt wurde, grenzt an Geschichtsklitterung par excellence. Man könnte auf ähnliche Weise Jesus als Grundsteinleger für Verbrennungen und Folterkeller von den Wänden dieser sich christlich aufspielenden Republik holen.

Nur weil sich nach ihm Leute auf ihn beriefen, seine Analyse in einen Alltagskodex umformten, in eine starre Lehre und Dogmatik gossen, muss man doch echt nicht so tun, als habe der Mensch und Philosoph Karl Marx keine Berechtigung mehr. Wer so mit Stumpf und Stiel glattbügeln, verschweigen, bemänteln oder verwischen will, steht nicht in der Tradition des Anstandes, sondern nimmt nun tatsächlich die Wesenszüge an, die man hier den Marxisten unterstellt: Ausradierung und Säuberung, die Retuschierung von Fotos und aus dem Gedächtnis. Es ist freilich starker Tobak, wenn man den Opferverbänden stalinistischen Terrors stalinistische Anleihen unterstellen muss. Aber ganz von der Hand zu weisen ist der Vorwurf freilich nicht. Wer weiß, vielleicht wäre Marx ja sogar selbst ein Opfer dieser Terrorwelle geworden, ganz so wie jener Jesus Christus in Dostojewskis Geschichte in der Geschichte (»Die Brüder Karamasow«), der zurückkam auf die Erde und fast auf dem Scheiterhaufen endete, nachdem ihm der Großinquisitor die Leviten gelesen und als unpassend für die aktuelle Zeit tituliert hatte.

Ein Einwand übrigens, den man bei Karl Marx nicht anbringen kann. Seine Analysen sind in gewisser Weise zeitgemäß weil zeitlos. Nicht gänzlich natürlich, als Religionsersatz, wie von manchem betrieben, taugt er freilich nicht. Wäre Marx in Zeiten, da der Sozialstaat noch expandierende Kraft besessen hat, aus seinem Grab auferstanden und hätte auf die Entwicklung gelugt: Gut möglich, dass er vielleicht nicht nur festgestellt hätte, dass wir auf einem guten Weg hin zur sozialistischen Umverteilung sind. Eventuell hätte er sogar bestätigt, dass er es sich genau so immer vorgestellt hatte: So habe er sich einen praktikablen Sozialismus imaginiert. Könnte ja sein, oder? Und so einem potenziellen Opfer seiner Jünger, einen Befürworter des modernen Sozialstaates, der nie jemand getötet hat oder auch nur in Aussicht stellte, man müsse Menschen vernichten, klittert man einfach mal so flott aus der Hüfte heraus? Opfer sein bedeutet eines nicht: Aus einer Opferselbstgerechtigkeit heraus vorverurteilen und falsch verurteilen zu dürfen. Sonst werden Opfer nämlich zu vermeintlichen Tätern.

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Roberto J. De Lapuente

Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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Heldentasse
Heldentasse
5 Jahre zuvor

Ein guter Artikel! Herr Marx war, egal wie man zu dessen wissenschaftlichen Arbeiten steht, zweifelsohne einer der größten historischen Persönlichkeiten die in Trier geboren wurden, warum also diesem Mann kein Denkmal setzen?

Beste Grüße

Schweigsam
Schweigsam
Reply to  Heldentasse
5 Jahre zuvor

Na, hat der nicht schon so viele!
M.M.n. sollte wir ein Denkmahl hier bei den neulandrebellen als nachvolger des spiegelfechters bekommen! Wir sind schon über 10 Jahre dabei 😉

Brian DuBois-Guilbert
Brian DuBois-Guilbert
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

Denkmahl hier bei den neulandrebellen als nachvolger

aua……

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

@Schweigsam

M.M.n. sollte wir ein Denkmahl hier bei den neulandrebellen als nachvolger des spiegelfechters bekommen!

Denkmäler gibts nur für Abgelebte! 🙂

Tom J. Wellbrock
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

Ein Denkmahl?
Kein Problem, wir haben doch unsere Fördertafel! 🙂

http://www.neulandrebellen.de/foerderer/

Schniepel
Schniepel
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

Der Nachvolker vom Berger heißt gar nicht Volker.

Heldentasse
Heldentasse
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

@schweigsam

M.M.n. sollte wir ein Denkmahl hier bei den neulandrebellen…

Ich hätte gerne einmal Pommes rot bitte! 😉

Schweigsam
Schweigsam
Reply to  Heldentasse
5 Jahre zuvor

Du Witzbold…
Jetzt habe ich mich wohl zum Affen gemacht.

Schniepel
Schniepel
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

Das ist hier nicht möglich

aquadraht
aquadraht
Reply to  Schweigsam
5 Jahre zuvor

Dafür haben wir Sukram.

a^2

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Heldentasse
5 Jahre zuvor

warum also diesem Mann kein Denkmal setzen?

Eben, und am Besten vor dem Dom, dem Symbol für Massenverdummung- und knechtung durch eine verkommene Oberschicht aus Adel und Klerus.
Mitten in der Constantin-Basilika wäre auch passend, da dieser Psychopath für seine Machtgelüste das Christentum zu dem gemacht hat, was es heute ist.

Heldentasse
Heldentasse
Reply to  Robbespiere
5 Jahre zuvor

@Robbespiere

Ja das wäre der Gag. Einen „kantigen“ 10m hohen Marx, nach Art der Ostzone, auf dem Domplatz! Am besten noch mit der Inschrift „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“, dann würde die teutsche Volks- Seele inkl. der dortigen Pfaffen aber so etwas von brodeln.

Beste Grüße

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Heldentasse
5 Jahre zuvor

Am besten noch mit der Inschrift „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“

Passt perfekt, denn das trierer Bischofspalais steht genau gegenüber des Doms. 🙂

flatter
flatter
5 Jahre zuvor

Die Analyse! Wo bleibt die Analyse?
So etwas hier:
Gut möglich, dass er vielleicht nicht nur festgestellt hätte, dass wir auf einem guten Weg hin zur sozialistischen Umverteilung sind.“ zeigt mir, dass du die Analyse noch immer nicht hinkriegst.

Versuche doch einmal folgenden Satz zu verstehen, bitte:

„Das Kapital ist die uferlose Akkumulation von toter verausgabter Lohnarbeit als irrationaler Selbstzweck. Alles andere – die Waren, die Konsumenten – ist nur Mittel zu diesem Zweck. Die tiefe Absurdität der gegenwärtigen Krise liegt somit gerade darin, dass das Kapital an seiner eigenen Produktivität erstickt.“

Umverteilen! Ich fasse es nicht.

Tom J. Wellbrock
Reply to  Roberto J. De Lapuente
5 Jahre zuvor

Die Analyse! Wo bleibt die Analyse?

Bei Dir!
Warm und trocken und gut verwahrt.

Die Katze aus dem Sack
Die Katze aus dem Sack
Reply to  Tom J. Wellbrock
5 Jahre zuvor

Auf meiner Punkteskala steht es übrigens noch immer 0:0. Aber es ist ja nie jemand wie ich, für den man sich da ins Zeug legt. Der Drops war selbstverständlich schnell gelutscht. Allen anderen hilft so etwas sicherlich weiter. An die würde ich dann auch die Fragestellung weiter reichen, für welche Seite ich doch nun Partei zu ergreifen hätte. Wen soll ich anfeuern, wem den blanken Arsch zeigen?

ChrissieR
ChrissieR
Reply to  Roberto J. De Lapuente
5 Jahre zuvor

Anales oder A.Nahles ???
Sorry, pubertätes Wortspiel, muhahaaaa

ert_ertrus
ert_ertrus
Reply to  ChrissieR
5 Jahre zuvor

Die kommt ja auch aus Trier! Hoffentlich erleb ich´s nicht mehr, wenn irgendwelche Wahnsinnigen DER
ein Denkmal setzen (müssten schon Hardcore-Neolibs sein 😉 …)

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Roberto J. De Lapuente
5 Jahre zuvor

J. De Lapuente

Wäre Marx in Zeiten, da der Sozialstaat noch expandierende Kraft besessen hat, aus seinem Grab auferstanden und hätte auf die Entwicklung gelugt: Gut möglich, dass er vielleicht nicht nur festgestellt hätte, dass wir auf einem guten Weg hin zur sozialistischen Umverteilung sind. Eventuell hätte er sogar bestätigt, dass er es sich genau so immer vorgestellt hatte:

Da der Sozialstaat seit dem Zusammenbruch des Gegenmodells Ost Stück für Stück demontiert wird, ist davon auszugehen, dass er nur deshalb vom Westen implemntiert wurde, um die Bürger davon abzuhalten, ein limkes Staats- und Gesellschaftsmodell zu bevorzugen.
Das dies marxschen Vorstellungen genügt hätte, halte ich für absurd.
Bis auf diesen Punkt stimme ich dir aber zu.

flatter
flatter
Reply to  Roberto J. De Lapuente
5 Jahre zuvor

Ich hatte eigentlich darum gebeten, den zitierten Satz zu lesen (der ist nicht von mir), aber ich sehe: abstrakte Rechthaberei ist noch reichlich da; Verstand war aus. „Will ich nicht“ hätte auch gereicht. „Ist mir zu komplziert“ wäre ehrlich gewesen.
schüss!

Looper
Looper
Reply to  flatter
5 Jahre zuvor

Erzähl das deinem Friseur, flatter !

pentimento
pentimento
Reply to  Roberto J. De Lapuente
5 Jahre zuvor

The winner is … ???

Mordred
Mordred
Reply to  Roberto J. De Lapuente
5 Jahre zuvor

Flatter wollte wohl darauf hinaus, dass Marx nie von sozialistischer Umverteilung im Kapitalismus gesprochen hat.

Looper
Looper
Reply to  Mordred
5 Jahre zuvor

Warum hat er das nicht so geschrieben ? Wäre ja richtig gewesen.

Manche Leute verpassen den richtigen Zeitpunkt, sich aus diesem
Bildungssystem zu verabschieden um raus in die Welt zu gehen.

Die universitäre Kopiermaschine dieses Systems hinterlässt leider
viele Bildungsopfer. Die kannste dann nur noch als Dozenten im
elitären Elfenbeinturm verwenden.

Mordred
Mordred
Reply to  Looper
5 Jahre zuvor

Meine Betonung lag auf „wohl“ aka „vermutlich“.

Warum hat er das nicht so geschrieben ? Wäre ja richtig gewesen.

Er ging wahrscheinlich davon aus, dass Roberto bzgl. Marx genug Vorwissen hat und er gleichzeitig auch mit dem notwendigen Grips ausgestattet ist.

Es könnte aber auch sein, dass Roberto das durchaus weiß, aber um der Rhetorik und der Aussagekraft seines Textes willen bewusst stark spekuliert hat. Und da fühlt er sich nun wegen dieser (aus seiner Sicht) Spitzfindigkeit auf den Schlips getreten.

Ich persönlich finde Flatters Hinweis wichtig, allerdings zu klugscheißend vorgetragen, weil das imho nicht die Hauptaussage des Artikels berührt. Wobei das ganze ne lange Vorgeschichte hat…

Looper
Looper
Reply to  Mordred
5 Jahre zuvor

Wir sind alle Produkte der kapitalistischen Kopiermaschine.
Marx konnte das noch nicht wissen. Sigmund Freund entdeckte die
prägenden, psychischen Mechanismen des Kapitalismus erst mit der Psychoanalyse, 20 Jahre nach dem Tod von Karl Marx.
Gegenseitiges Disziplinieren und Rangkämpfe werden durch die
gegebenen, gesellschaftlichen Bedingungen verstärkt, wenn nicht
gar hervorgerufen. Der Kapitalismus als Pädagoge, um beim Thema zu bleiben.

Schniepel
Schniepel
Reply to  flatter
5 Jahre zuvor

Umverteilen! Ich fasse es nicht.

Warum nicht von reich nach arm umverteilen ? Es wäre eine Systembremse um Zeit zu
schinden, um nicht an den point of no return zu geraten, kurz bevor der Laden auseinander bricht.
Eine andere Frage ist, wie verteilt man um ohne das giftige Zeuge mit umzuverteilen,
Schrott-Aktien, -Fonds, -Anleihen, -Derivate ? Was sollen Arme mit dem wertlosen Zeug ?
Da draußen wabert noch eine Wolke von 1 Bio. Dollar voll Lehman-, und anderm Finanzmüll herum. Draghi verteilt diesen Scheiß schon auf die Bürger, sofern ich das beurteilen kann.

trackback
Karl Marx, Opfer der Opferverbände kommunistischen Terrors – Tagesticker.net
5 Jahre zuvor

[…] großer Säuberung. Dabei ist eine Karl-Marx-Statue vor allem eines: Eine Karl-Marx-Statue.Weiterlesen bei den neulandrebellen Lesen Sie auch: Arbeitskraftverkäufer, ihr habt nichts zu verlieren – fast nichts! Die […]

Moritz Reichelt
Moritz Reichelt
5 Jahre zuvor

Den Opferverbänden geht es nicht um die Opfer, sondern um ihren Antikommunismus.

aquadraht
aquadraht
Reply to  Moritz Reichelt
5 Jahre zuvor

Genau, da sind ganz schöne Faschos drunter, bei denen es schwerfällt, die Stasi zu kritisieren.

a^2

ChrissieR
ChrissieR
5 Jahre zuvor
Mechthild Mühlstein
Mechthild Mühlstein
5 Jahre zuvor

Wäre Marx zu seinem 160. geburtstag für ein weilchen aus seinem grab herausgekommen und hätte sich die beiden Deutschlands angeschaut, er hätte sie beide erbärmlich gefunden. In der »Kritik des Gothaer Programms« schreibt er:

» […] der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.«

Das legt nahe, daß er das Deutschland mit dem ausgebauten sozialstaat nicht übermäßig fortschrittlich gefunden hätte. Denn an dem prinzip, lohnarbeit verkaufen zu müssen, hat sich in Westdeutschland nie etwas geändert, auch wenn die arbeiter mit ein paar rechten ausgestattet waren und ein bißchen mehr umverteilt wurde. Es ist nämlich eine bescheuerte idee, die eigentumslosen erst in konkurrenz zueinander in die lohnsklaverei zu schicken, um am schluß den verlierern ein krümelchen umzuverteilen.

Über die DDR hätte er wahrscheinlich nicht minder gekotzt: erst haben die die produktionsmittel vergesellschaftet, um dann die lohnsklaverei unter dem prädikat »aber bei uns werden die arbeiter ganz toll behandelt« beizubehalten. Anstatt es abzuschaffen haben die das proletariat einfach auf einen sockel gestellt.

Der Marx von 1978 hätte sicherlich kaum anders gedacht als der von 1875:

» […] also ist das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei […], die im selben Maß härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange. «

Wer die vierzig jahre von 1978 bis heute betrachtet, sollte schon feststellen können, daß das stimmt: die produktivität hat sich seit dem vervielfacht, die lebensverhältnisse sind aber nicht besser geworden.

Und das hängt damit zusammen, daß eben nicht die arbeiter bestimmen, sondern die eigentümer.

TaiFei
TaiFei
5 Jahre zuvor

„Für Russland sah er ohnehin gar nichts, schon gar nichts dergleichen vor; “
Jein! Marx veränderte im Laufe seines Schaffens durchaus auch seine Positionen. So änderte er z.B. seine Positionen zur „orientalischen Despotie“ zu welcher er im weiteren Sinn auch Russland zählte. War er zu Beginn noch eurozentrisch ausgerichtet (damalige Propaganda im Zuge des Sepoy-Aufstandes) so sah er später in dem kommunalen Gemeindewesen durchaus auch ein Chance für eine andere Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade Russland gestand er einem Sonderweg zu.

Unwissender
Unwissender
5 Jahre zuvor

Servilität hat Marx am meisten verabscheut, nach seiner eigenen Aussage. Diese bezog sich wohl auf jeden Einzelnen. Hat also die Vorprägung der Einzelnen die Umsetzung seiner Ideen korrumpiert? Die Psychologie seiner Zeit war kein guter Helfer um Voraussagen treffen zu können. Bin nicht bewandert in seinen Schriften, aber die kollektive Zuweisung der Schuld zu seiner Person ist auch für mich unlogisch. Er hatte keine Macht die über seine Worte und Ideen hinaus ging. Dann wäre ein Beitragsschreiber auch schuld wenn sein Beitrag in einen anderen Kontext gebracht und daraus Übles entstünde. Individualität ist keine Fiktion sondern Fakt. Egal welcher Schicht man angehört. Glaube, das hat er mit seiner Aussage mglw. auch als wichtig für seine Ideen erkannt.