Danksagung: Sehr verehrtes Koalitions-Publikum …

… ich möchte mich – auch im Namen aller an den Sondierungen und Koalitionsgesprächen beteiligten Protagonisten – für Ihre Geduld und insbesondere für Ihr Interesse bedanken!

Ich bin der Drehbuchautor und Regisseur des Films, den Sie jetzt seit nunmehr 1998 – damals noch mit dem Hauptdarsteller Schröder – zu sehen bekommen. Und ich muss zugeben, es war für mich nicht immer leicht, denn schließlich drehe ich seitdem immer den gleichen Film. Dabei das Interesse des Publikums auf einem relativ konstanten Level zu halten, stellte und stellt für mich eine Herausforderung dar.

Sie, verehrtes Publikum, sind mir und den Schauspielern dennoch treu geblieben. Sie haben sich angesehen, was wir produziert haben, haben die teils bestenfalls mäßig begabten Darsteller in Ihre Herzen geschlossen – oder die Bösewichte emotional verabscheut -, Sie haben selbst die absurdesten Wendungen und die langweiligsten Wiederholungen mit der Treue belohnt, die sonst nur Kultfilmen zuteil wird.

Ich sage das durchaus selbstkritisch, denn ich weiß natürlich, dass der Film, den wir Ihnen seit 1998 zeigen, nicht viel Neues zu bieten hat. Mir ist klar, dass die Änderungen, die ich (und mein Team) vorgenommen haben, für einen aufregenden und überraschenden Plot nicht ausreichen. Und ich weiß darüber hinaus, dass sogar schon vor 1998 die Geschichte, die wir Ihnen erzählen, keineswegs revolutionär neu war (wobei ich Ihnen, sehr verehrtes Publikum, anrechne, dass Sie es mit revolutionären Gedanken eh nicht so haben, was mich sehr freut). Trotzdem blieben Sie „am Ball“ und zeigten immer wieder die Hoffnung, dass sich am Verlauf des Films etwas ändern könnte.
Das war natürlich nicht der Fall, und das wird auch so bleiben.

Unsere aktuelle Episode des Streifens, den Sie nun schon so lange gucken, begann am 24. September 2017, und Sie – das war uns Machern klar – mussten eine Menge Geduld mitbringen. Um Ihr Interesse dennoch hochzuhalten, haben wir uns spannende und überraschende Wendungen ausgedacht, zum Beispiel den mittelmäßigen Schauspieler Lindner, dem wir den Satz ins Drehbuch schrieben: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“
Oder auch den in sich zerrissenen Schulz, der mal kategorisch gegen eine neue große Koalition war, um dann kurze Zeit später dafür zu sein. Mit Schulz eine Figur zu entwerfen, zu zeichnen und weiterzuentwickeln, die trotzdem eine gewisse Glaubwürdigkeit in sich trägt, war die vielleicht schwerste Aufgabe des aktuellen Kapitels, und wir sind nicht sicher, ob wir diese Figur nicht ein wenig zu sehr überzeichnet haben. Aber sei‘s drum, wir müssen mit Schulz so weitermachen, wie wir begonnen haben, denn Glaubwürdigkeit der Figuren – das können Sie mir glauben, verehrtes Publikum – ist das A und O in der Inszenierung von Geschichten. Und das, selbst wenn dabei unglaubwürdige Figuren entstehen.

Inhaltlich, das kann man nicht anders sagen, haben wir Ihnen seit dem 24. September 2017 nichts Neues geboten. Sie erhalten weiterhin Neoliberalismus pur, Sie bekommen weiterhin Protagonisten, die von Ihnen, liebes geschätztes Publikum, weit entfernt sind. Aber wir müssen eben auch sehen, wo wir bleiben, was ankommt, was uns abgekauft wird. Und Sie kaufen uns die Damen und Herren, die ausschließlich an sich selbst und ihre mickrigen Karrieren denken, dabei aber die Rhetorik an den Tag legen, die Ihnen vermittelt, es ginge wirklich um Sie, nun mal am besten ab. Was hätten wir also anders machen sollen?
Um es mit den Worten einer der Hauptdarstellerinnen zu formulieren: „Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten.“

Ihre Treue, verehrtes Publikum, ist uns wichtig. Wir wollen auch weiterhin den Film drehen, den Sie und wir nun schon so gut kennen. Wir wollen auch weiterhin das große Ganze so belassen, wie es ist, besser noch: ausbauen, verfeinern, irgendwann auf die Spitze treiben. Wir wollen weiterhin, dass Sie sich von den Nebenhandlungen fesseln, von Details beeindrucken und von Kleinigkeiten, die insgesamt bedeutungslos sind, in den Bann ziehen lassen. Wir sehen keinerlei Anlass, einen neuen Film zu planen, geschweige denn zu drehen. Es gibt hin und wieder Menschen, die uns das nahelegen. Die uns sagen, wir sollten einmal etwas anderes als den Neoliberalismus thematisieren und heroisieren. Aber es sind wenige, und sie sind sich nicht einmal einig, oft zerstritten. Also sehen wir keinerlei Anlass, uns mit diesen Empfehlungen zu beschäftigen.

Stattdessen verlassen wir uns auf Sie, verehrtes Publikum! Denn Sie stehen alle vier Jahre an der Kasse, um die Karten zu bezahlen, die wir für Sie bereithalten. Sie zahlen jeden Preis, den wir verlangen, und Sie nehmen teil an einer Geschichte, die zwar nicht aufregend ist, die kein Happy End bietet, die aber stetig weitererzählt wird, ohne dass sich an der Vorhersehbarkeit etwas ändert.

Dafür, verehrtes Publikum, möchte ich mich, möchten wir uns bei Ihnen herzlich bedanken!
Bleiben Sie uns wohlgesonnen. Und wenn schon nicht das, dann kaufen Sie bitte weiterhin Ihre Eintrittskarten, auch wenn wir – zumindest das können wir Ihnen garantieren – die Eintrittspreise demnächst wieder massiv erhöhen werden.

Ihr Regisseur und Drehbuchautor  [InfoBox]

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Tom J. Wellbrock

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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gaanzlocker
gaanzlocker
6 Jahre zuvor

Der Titel dieser Dramödie, die du beschreibst, lautet: ‚Evolution‘. Der Film läuft schon ewig und wird auch noch ewig so weiterlaufen. Und ein jedes Menschlein hat seine Rolle zu spielen, wie sie ihr oder ihm auf den Leib geschrieben wurde. Sowohl der Drehort als auch die Kulisse wurden vom Produzenten kostenlos zur Verfügung gestellt. Deine offensichtliche Rolle als kritischer Journalist spielst du genauso wohlfeil, wie ich die meine, als eifriger Kommentator. Wie der Titel des Films schon andeutet, sind Veränderungen der Eigenschaften und Optionen am Drehort, der Kulisse und den Rollen der einzelnen DarstellerInnen nicht nur vorgesehen, sondern sogar ausdrücklich erwünscht. Manche Veränderungen geschehen blitzschnell und manche dauern eine gefühlte Ewigkeit. So, wie uns die laaange Geschichte dieses Films weismachen will, bist nicht nur du, sondern sogar alle daran Beteiligten außer Drehbuchautoren und Regisseuren zudem auch noch Kameramann/frau und Cutter dieses Streifens. Ein äußerst kompliziertes und ambitioniertes Filmprojekt, welches da auf die Beine gestellt wurde, wie mir scheint. Aber wie mir dein heutiger Beitrag zufriedenstellend mitteilt, sind wir beide auf dem richtigen Weg, dem Film interessante Facetten zu verleihen. Solch einenText habe ich von dir noch gar nicht gelesen, geschweige denn, dass ich bisher solch einen Kommentar verfasst habe. Ach ja, der Evolution-Film ist schon was gaanz Tolles. Nur munter weiter so.

R_Winter
R_Winter
6 Jahre zuvor

Mit Schulz eine Figur zu entwerfen, zu zeichnen und weiterzuentwickeln

Eine Figur „Martin Schulz“ in der Literatur dazustellen, war bisher nur wenig glaubhaft erfolgt, aber das Leben bietet in der Realität zur Zeit mehr… z.B. Trump, Erdogan.
Selbst die 100-jährige sPD hatte es bisher nicht geschafft, doch jetzt ist sie endlich erfolgreich.
Es hatte ein 8-jähiges Kind bedürft (meine Enkelin), um zu erkennen, dass Schulz nackt ist und schmuddelig wirkt. Wie dumm müssen da ca. 18% der Wähler sein?

Heldentasse
Heldentasse
Reply to  R_Winter
6 Jahre zuvor

Eine Figur „Martin Schulz“ in der Literatur dazustellen, war bisher nur wenig glaubhaft erfolgt

Wie wäre es mit dieser Seite hier bestellt?

Beste Grüße

Heldentasse
Heldentasse
6 Jahre zuvor

Ich sage das durchaus selbstkritisch, denn ich weiß natürlich, dass der Film, den wir Ihnen seit 1998 zeigen, nicht viel Neues zu bieten hat.

1998 haben die Sozen ihre politischen Prinzipien verkauft, heute verramschen die mangels Masse nur noch ihre verbleibende Würde. Bald ist gar nichts mehr da was sich verscherbeln lässt; dann gibt es auch keinen neuen Teil von diesem miesen Film, und das ist gut so.

Beste Grüße

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  Heldentasse
6 Jahre zuvor

Bald ist gar nichts mehr da was sich verscherbeln lässt;

Naja, das „bald“ ist vermutlich erst in 4 Jahren. genug Zeit, um auch noch die Reste von Bürgerrechten, Sozialstaat, Demokratie und Gesellschaft auf dem Flohmarkt der Investoren gg. Bakschisch feilzubieten.
Selbst wenn die CSU bei den LTW abkackt, wird sich sicher ein Ersatzpferd im neoliberalen Karusell finden, das sich seiner „staatspolitischen Verantwortung“ voll bewußt ist.

Carlo
Carlo
6 Jahre zuvor

Demokratie braucht ihre Zeit. Das sollte normal sein. Nur waren in ihr keine Parteien und schon gar keine Parrteikoalitionen (von Parlament und Wahlen gar nicht zu reden) vorgesehen. Aber im Zeitalter des marktkonformen Parlamentarismus (Im »Volks«mund auch repräsentative Demokratie genannt) versucht man dem modernen Menschen alles zu verkaufen.

Hacki
Hacki
6 Jahre zuvor

OFF

„Die AfD dürfte künftig auf einen Politikmix setzen, der in der deutschen Geschichte schon einmal furchtbar erfolgreich war: Rassismus plus Sozialstaat. Dann droht der Aufstieg der Rechten zur Massenbewegung.“

So wird es kommen, Herr Augstein !

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-die-rechtspopulisten-und-dernationalenationale-sozialismus-kolumne-a-1191417.html

pentimento
pentimento
6 Jahre zuvor

Tom Wellbrock

Danke für den Film, bei dem ich immer glaube, im Falschen zu sein. Die unglaubliche Unglaubwürdigkeit des Unglaubwürdigsten aller unglaubwüdigen Politiker hast Du wirklich unglaublich glaubwürdig rübergebracht!

pentimento
pentimento
6 Jahre zuvor

Der schamlose Lügner Chulz und seine ehrlose Chefin sollten aufpassen, daß sie sich bei ihren akrobatischen Wendungen nicht mal den Hals brechen.

pentimento
pentimento
6 Jahre zuvor

Test

Rainer N.
Rainer N.
6 Jahre zuvor

Denkfehler – wir sehen keinen Film, wir sind die Laiendarsteller in dem Film …

und wer darin eben seine Rolle spielt … hat selber Schuld …

Asche auf mein Haupt … selbst ich wehre mich nicht so … wie ich es eigentlich müsste …

aber ich bin ja auch gegen Gewalt … irgendwie leider … aber über meinen Schatten zu springen …

dazu geht es mir wohl noch nicht schlecht genug … ich existiere zwar … Leben nenne ich es auf keinen Fall.

Und meine Schulden … bei mir nicht einzutreiben … was für ein Glück … so spiele ich eben Harlekin …

und der Tick-Tack-Mann … (Bereue Harlekin, sagte der Tick-Tack Mann)

https://www.google.de/search?source=hp&ei=77R4WovfKcPTwQKQ1bywCg&q=bereue+harlekin+sagte+der+ticktackmann&oq=bereue+harlekin+&gs_l=psy-ab.1.1.0i22i30k1l2.1890.5150.0.8156.16.11.0.5.5.0.155.1036.7j4.11.0….0…1c.1.64.psy-ab..0.16.1126…0j0i131k1j0i10k1.0.Y7DvIgxHPg0

Abgrundtiefe Enttäuschung
Abgrundtiefe Enttäuschung
6 Jahre zuvor

Koalition: Bieten derartige Regelungen Parteimitgliedern nicht flexible Betätigungsmöglichkeiten und schaffen auch noch Raum für Tricksereien ?

Abgrundtief enttäuscht
Justiz: Mehr als 20.000 neue Beamt*Innen – Ist nicht ferner davon auszugehen, dass die Gründe dafür nicht ernsthaft genug „abgefragt und gewogen“ wurden ? Finanzen: Deutschland sei schließlich ein wunderbarer Ort, um Geld zu verprassen ? Arbeit: Deren Verfügungen auf dem Rechtsweg überprüft werden können ? Außenpolitik: Mit einer zuverlässig in die Profilierung zwingenden SPD ?
Migration: Wollen wir Ausreisepflichtige stärker danach unterscheiden, ob sie unverschuldet an der Ausreise gehindert sind oder ihnen die fehlende Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Ausreisepflicht zugerechnet werden muss ?

Sollen denn die Mängel nur besser verwaltet, aber eben nicht wirklich behoben werden ?

Kommt es nicht auf die Frage nach dem persönlichen Verschulden an ?

t.h.wolff
t.h.wolff
6 Jahre zuvor

Der Scholz-o-Mat als Vizekanzler, Nahles als SPD-Parteivorsitzende – und das bei gegenwärtig 17%. Die Spezialdemokraten bereiten offensichtlich den freien Fall in die politische Bedeutungslosigkeit vor. Respekt! Die neoliberale Plattform hat geschafft, was selbst den Bismarck’schen Sozialistengesetzen versagt blieb: mit den gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie dürfte es wohl bald vorbei sein.

Robbespiere
Robbespiere
Reply to  t.h.wolff
6 Jahre zuvor

@t.h.wolff

mit den gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie dürfte es wohl bald vorbei sein.

Diese Lücke dürfte schnell zu schließen sein.
In spätestens 4 Jahren ist die AFD für die Union absolut demokratisch und koalitionsfähig.